Mt 5,1–12, Vierter Sonntag im Jahreskreis A
I
Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter. Sie reden durch die Sonne und durch den Duft der Wermutsträucher, durch den Silberkürass des Meeres, den grellblauen Himmel, die blumenübersäten Ruinen und die Lichtfülle des Steingetrümmers. Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne. Vergebens suchen die Augen mehr festzuhalten als die leuchtenden Farbtropfen, die an den Wimpern zittern. Der herbe Geruch der Kräuter kratzt in der Kehle und benimmt in der ungeheuren Hitze den Atem. Hier trifft man die Götter wie Ruhepunkte im Lauf der Tage. Ich sage: »Dies Ding ist rot und jenes blau und jenes grün. Hier ist das Meer und dort das Gebirge, und dort sind Blumen.« Ich weiß hier und jetzt, dass ich nie nahe genug an die Dinge der Welt herankommen werde. Nackt muss ich sein und muss dann, mit allen Gerüchen der Erde behaftet, ins Meer tauchen, mich reinigen in seinen Salzwassern und auf meiner Haut die Umarmung von Meer und Erde empfinden, nach der beide so lange schon verlangen. Hier begreife ich den höchsten Ruhm der Erde: das Recht zu unermesslicher Liebe. Es gibt nur diese eine, einzige Liebe in der Welt. Wenn ich mich jetzt gleich in die Wermutbüsche werfe und ihr Duft meinen Körper durchdringt, so werde ich bewusst und gegen alle Vorurteile eine Wahrheit bekennen: die Wahrheit der Sonne, die auch die Wahrheit meines Todes sein wird. Die Brise ist frisch, der Himmel ist blau. Ich liebe dieses Leben von ganzem Herzen und will frei von ihm reden: Ich verdanke ihm den Stolz, ein Mensch zu sein.
Albert Camus, Hochzeit in Tipasa
II
Ganz so wie in Tipasa, einer kleinen Stadt in Algerien, deren Schönheit Albert Camus so eindrucksvoll beschreibt, ist der Sommer bei uns nicht. Aber wir kennen schon auch die Stunden, in denen uns das Licht der Sonne und ihre Wärme buchstäblich zu durchfluten scheinen. Vielleicht an einem erholsamen Wochenende, wo ich am Rand eines Badeweihers im Halbschatten auf der Wiese liege. Ich habe den Geruch der Blumen und des Wassers in der Nase, eine sanfte Brise streicht über meine Haut, ich spüre die Ruhe in mir und lasse mich einfach treiben. Mein Blick gleitet über die Umgebung, nimmt alles wahr und wird doch durch nichts festgehalten. Dann höre ich auf, über die Dinge rings um mich herum nachzudenken.
Normalerweise kann ich gar nicht anders, als mir über alles, was mir begegnet, ein Urteil zu bilden, Theorien zu entwerfen, die Wirklichkeit in Konzepte einzuordnen. Menschen, mit denen ich zu tun habe, checke ich ab und überlege, wie ich mich ihnen gegenüber verhalten soll. Wenn ich etwas lese oder lerne oder in einer Vorlesung etwas höre, dann suche ich nach der passenden Schublade, in die ich das ablegen kann, frage mich vielleicht, ob ich darüber schon eine Meinung habe und wie etwas Neues, bisher Unbekanntes in mein Weltbild passt. Ich habe es verlernt, dass ich die Dinge der Welt einfach so sein lasse, wie sie sind. Und mehr noch habe ich es verlernt, die Menschen mit ihren Eigenheiten und Besonderheiten gelten zu lassen, wie sie sind. »Dies Ding ist rot und jenes blau und jenes grün. Hier ist das Meer und dort das Gebirge, und dort sind Blumen.«, sagt Camus. Das genügt. Ja mehr noch: das ist eigentlich der Schlüssel dafür, dass ich das Leben in seiner Buntheit und Vielfalt wieder neu schätzen lerne und dass ich mich von Menschen wieder überraschen und beschenken lassen kann; dass ich, wie Camus sagt, »nahe genug an die Dinge der Welt herankomme«, um ihnen nicht schon von vornherein meine Meinungen, meine festen Vorstellungen davon, wie das Leben zu sein hat, überzustülpen. Damit mir das gelingt, muss ich nackt sein, d.h. ich muss mich frei machen von den Vorurteilen, die verhindern, dass ich etwas überhaupt an mich heranlasse. Ich bilde mir ja meistens ein, schon alles vorher zu wissen. Bevor ich einen Menschen überhaupt treffe, mache ich mir schon ein Bild von ihm, frage nach, ob jemand anders ihn kennt und übernehme dann das, was ich über diesen Menschen gehört habe. Wenn mir jemand etwas Neues erzählt, rattert es in meinem Kopf und ich versuche, den Punkt zu finden, wo ich einen Haken machen kann und sagen: »das weiß ich schon«.
III
Mit diesen vorgefertigten Rastern, die ich mir zurechtlege, bringe ich mich darum, die Dinge und Menschen wirklich wahrzunehmen und das Leben zu genießen. Was Camus beschreibt in seiner Erfahrung des unmittelbaren Kontakts mit der Wirklichkeit, ist ein Weg des Lebensgenusses: ich darf die »Gerüche der Erde [spüren], ins Meer tauchen, mich reinigen in seinen Salzwassern und auf meiner Haut die Umarmung von Meer und Erde empfinden«.
Ich glaube, das ist genau dieselbe Weise, das Leben zu genießen, wie sie auch die Bergpredigt Jesu in ihren Seligpreisungen beschreibt, die wir eben im Evangelium gehört haben. Das klingt jetzt vielleicht etwas überraschend, betrachten wir gerade die Bergpredigt doch oft als eine besonders harte Schule der Welt-Überwindung: Arm muss ich da werden, hungern und dürsten, sogar verfolgt werden und es schadet auch nicht, wenn ich ein bisschen arm im Geiste bin, sonst würde ich das alles gar nicht aushalten. Aber eine solche Lesart ist ein Missverständnis. Die so leben werden ja von Jesus selig gepriesen. Und Jesus war weder pervers noch ein Zyniker. Er hat auch nicht das gute Leben auf später vertagt, sonst hätte er es sich sparen können, sich selbst mit seiner ganzen Existenz den Armen, Notleidenden und Traurigen zuzuwenden, sie zu heilen und wieder froh zu machen.
Selig sind die Armen: nämlich jene, die frei sind von vorgefassten Meinungen und angelernten pseudointellektuellen Urteilen. Selig sind die, die ihren Mitmenschen noch ganz unverstellt, völlig natürlich und unverkrampft begegnen können, die ein Lächeln erwidern und die die Not der Anderen sehen, ohne sie mit irgendwelchen Ausreden von sich fernzuhalten. Barmherzig sind die, die ihre Mitmenschen gelten lassen können und sie nicht in die eigene Lebensweise hineinzwängen müssen. Sie werden selbst Barmherzigkeit finden, weil sie sich als die annehmen können, die sie sind. Und ein reines Herz ist dasjenige, das sich danach sehnt, »nahe genug an die Dinge der Welt heran[zu]kommen« ohne etwas Fremdes zwischen sich und die Welt stellen zu müssen. Wenn ich so ein reines, unverstelltes Herz habe, dann kann ich tatsächlich schon in dieser Welt, in dem, was mir in ihr an Schönem, Großartigem, Wunderbaren, Trostreichen begegnet – Gott schauen. Das ist ja der »höchste Ruhm der Erde: das Recht zu unermesslicher Liebe«. Auf den, der so lebt, wie Jesus es gemeint hat, fließt dieser Ruhm über wie das Licht und die Wärme der Sonne, strömt in ihn hinein wie der Duft der Büsche und umspielt ihn wie die sanfte Brise des Sommerwinds. Wer möchte nicht so leben? -
In unserem Alltag sind wir weit entfernt von einem solchen Leben, machen uns den Genuss und die Freude am Leben selber kaputt oder suchen ihn, indem wir uns nur immer mehr zuschütten mit unnützem Zeug. Dabei wäre es so einfach: ich muss nur loslassen und mich trauen, ohne Krücken zu leben, ohne das, was andere mir einreden oder was ich mir als unverzichtbar einbilde. Ich blähe meine Nase und sauge die Luft ein, ich öffne mein Herz und werde barmherzig – und dann gehört mir das Himmelreich. Jetzt.
Zum Weiterlesen
Camus, Albert ; Gan, P. ; Lang, M. (Übers.): Hochzeit des Lichts. Zürich : Arche, 2013
Bild: Strand von El Kala, Algerien © Validovish / Fotolia