Lk 24,13-35, Ostermontag
I
Wahrscheinlich lebt man gar nicht, sondern wartet darauf, dass man bald leben werde; nachher, wenn alles vorbei ist, möchte man erfahren, wer man, solange man gewartet hat, gewesen ist.
Martin Walser: Ein springender Brunnen
Was Martin Walser in seinem autobiographisch geprägten Roman „Ein springender Brunnen“ über das Leben sagt, steht als unausgesprochene Frage über vielen Lebensgeschichten: Wann beginnt eigentlich das „richtige“ Leben? „Wahrscheinlich lebt man gar nicht, sondern wartet darauf, dass man bald leben werde“ – vieles von dem, was wir tun, wird uns als Vorbereitung auf das Leben verkauft. Schule, Studium und Ausbildung wirken eher wie ein Probelauf für das richtige Leben. Ich muss Fähigkeiten erwerben, die ich – angeblich _ für später brauche. Ich muss mich qualifizieren durch Noten und Leistung. Wofür? Immer mehr empfinden vor allem das Studium und die ersten Berufsjahre so, als müssten sie sich qualifizieren, bevor sie überhaupt ein „richtiges“ Leben führen dürften. Und bei vielen geht das dann später immer so weiter. Ziehen wir mal ehrlich Bilanz auf der Grundlage der ganz unterschiedlichen Lebensabschnitte, in denen wir uns befinden: womit verbringe ich mehr Zeit: Mit der Vorbereitung auf das Leben, das ich einmal führen möchte, mit dem Warten darauf – oder mit dem Leben selbst?
Erst muss ich meine Prüfungen, meinen Abschluss schaffen und muss noch ein wenig warten, damit ich dann das richtige Leben genießen kann, das ich mit diesem Studium anstrebe. Erst muss ich mich beruflich etablieren und muss noch ein wenig warten, bis ich wirklich leben kann und mir das gönne, was ich mir unter einem „echten“ Leben vorstelle. Erst muss ich für mich und meine Familie eine feste Grundlage schaffen, Geld sparen, ein Haus bauen, erst muss ich noch ein wenig warten, bevor ich mich entspannen und des Lebens freuen kann. Erst muss ich im Ruhestand sein, muss noch ein wenig warten, um dann die Dinge tun zu können, die ich schon lange tun wollte. Immerzu muss ich noch ein wenig warten, um dann bald, sicher bald! alles so weit vorbereitet zu haben, dass ich „richtig“ leben kann.
Wenn ich Glück habe, kann ich in dieser Wartezeit wenigstens schon das ein oder andere Mal eine Vorahnung davon bekommen, wie das wirkliche Leben sein könnte. Aber in vielen Fällen verschiebe ich das Leben nur immer weiter und weiter in eine ferne, unbestimmte Zukunft. Und je weiter ich das Leben aufschiebe, desto stärker bekomme ich es mit der Angst zu tun, dass ich das wahre, echte Leben, auf das es mir so sehr ankommt, nicht mehr erreiche. Je mehr ich das Leben aufschiebe, desto mehr treibt mich die Sorge um, dass meine Vorbereitungen auf das Leben nicht gut genug gewesen sein könnten. Habe ich genug gelernt, genug Fähigkeiten und Qualifikationen erworben, um das Leben bestehen zu können? Habe ich viel genug für mein Auskommen und meine berufliche Stellung getan, um ein festes Fundament für mein Leben zu haben? Habe ich viel genug Zeit mit dem Menschen verbracht, mit dem ich mein Leben teilen möchte, um ihm wirklich vertrauen zu können?
Je länger ich auf das Leben warte, desto mehr trauere ich auch den verpassten Gelegenheiten nach, den vielen Augenblicken, in denen ich vielleicht hätte leben können, es mir aber versagt habe. Auch jenen Momenten unbeschwerten Lebens trauere ich nach, die ich genossen habe, und die viel zu kurz waren, um zu einem „richtigen Leben“ zu werden: dem sorglosen Glück der Kinder- und Jugendzeit, den schönen Stunden mit Freunden oder einem lieben Menschen. Vor lauter Angst und Sorge, das richtige Leben könnte an mir vorbeigehen, vor lauter Warten auf den günstigsten Moment, sehe ich überhaupt nicht mehr, dass ich jetzt, in diesem Augenblick leben könnte. Anstatt in der Gegenwart zu leben und sie zu genießen, lebe ich in der Angst, die aus meiner Vergangenheit kommt, oder in der Sorge um die Zukunft.
II
So geht es auch den beiden Jüngern, die von Jerusalem nach Emmaus unterwegs sind. Voller Trauer und Enttäuschung über das Vergangene sind sie und eine Zukunft sehen sie schon gar nicht mehr. „Wir hatten eine Hoffnung…“, sagen sie. Sie hatten wohl gedacht, die Zeit mit Jesus, manchmal wunderbar, manchmal auch anstrengend oder gefährlich, sei nur so etwas wie eine Vorbereitung auf das „richtige“ Leben, das erst kommen würde. Dann, wenn Jesus Israel erlösen würde, vielleicht die politische Unterdrückung beseitigen oder zumindest das Elend und die Nöte so vieler Armer, Kranker und Leidender in Freude und Glück verwandeln.
Aber dieses „richtige“ Leben wird nicht mehr kommen. Jesus ist tot. Das Warten war vergeblich, hat sich nicht gelohnt. „Wir hatten eine Hoffnung…“, sagen die Jünger. Das heißt, sie haben nie richtig in der Gegenwart gelebt. Als Jesus noch bei ihnen war, lebten sie in der Zukunft, haben nicht begriffen, dass das „richtige“ Leben (Jesus nannte es das Reich Gottes) schon jetzt begonnen hatte. Und nach Jesu Tod leben sie nur noch in der Vergangenheit einer Hoffnung, die einmal war.
Und dabei geht doch die Hoffnung, geht das „richtige“ Leben mit ihnen, an ihrer Seite. Sie müssten nur die Augen aufmachen, um dieses Leben zu sehen. Echtes, richtiges Leben ist da, ist jetzt, ist in der Gegenwart. Die Gemeinschaft, die Jesus gestiftet hatte, ist jetzt erfahrbar: Eine Gemeinschaft, in der für alle genug an Lebensmöglichkeiten da ist, in der ich das Leben teilen kann, ohne dass es weniger wird. Freunde, die mir nahe sein möchten, mit denen ich mich austauschen und verständigen kann, kann ich jetzt begegnen, mich ihnen öffnen und anvertrauen. Menschen, die dankbar sind für meine Hilfe und Anteilnahme warten jetzt auf mich. Ziele, für die ich mich engagieren kann, die meinem Leben und dem vieler anderer eine Perspektive geben, kann ich mir jetzt setzen.
Den Emmausjüngern wird das klar, als Jesus das Brot mit ihnen bricht. Da gehen ihnen die Augen auf und sie erkennen, dass das richtige Leben nicht irgendwann einmal war oder erst kommen wird, sondern dass es jetzt und hier stattfindet. Sie spüren das in einem Augenblick der Freude und des Genusses. Könnte es nicht sein, dass auch mir die Augen aufgehen, wenn ich mir etwas gönne, wenn ich Freude jetzt zulasse, und nicht länger darauf warte? – Warten wir nicht länger, dass wir bald einmal leben werden. Fangen wir jetzt zu leben an. Am besten in dieser Stunde, in der Jesus uns das Brot bricht, damit auch unsere Augen aufgehen für das Leben und unser Herz brennt für die Freude, die es jetzt für uns bereithält.
Zum Weiterlesen
Walser, Martin: Ein springender Brunnen, Frankfurt : Suhrkamp, 1998.
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