Leere Bühne

Leer ist die Welt

Ostern und das lee­re Grab

Mk 16,1–8, Oster­nacht B

I

»Leer ist die Welt« [1], so lau­tet der Titel eines klei­nen Büch­leins zur Leh­re des Bud­dhis­mus, das mir vor lan­gen Jah­ren am Ende mei­ner Schul­zeit der alte Haus­arzt unse­rer Fami­lie geschenkt hat.

Mit kla­rem Geist schau an als leer
das Welt­ge­sche­hen!
Zum Tod­be­sie­ger wer­de so.
Wer so die Welt betrach­ten kann,
den kann der Tod nicht sehen.

Sut­ta Nipā­ta 1119, in Schmidt, Kurt: Leer ist die Welt, S. 34

In die­sen Wor­ten des Bud­dha spie­gelt sich die Über­zeu­gung, dass kein Ding und Wesen die­ser Welt aus sich selbst her­aus Bestand hat. Alles ist das Ergeb­nis einer unend­li­chen Ket­te von Ursa­chen und Wir­kun­gen, ohne Anfang und viel­leicht ohne Ende. Wer durch­schaut, dass alles in sich »leer« ist, kann für sich die­sen Kreis­lauf beenden.

Ich erin­ne­re mich noch gut an mein Gefühl der Trau­rig­keit dar­über, dass all die wun­der­ba­ren Erschei­nun­gen und Geschöp­fe die­ser Welt nichts sein soll­ten. Das war ver­wir­rend und bestür­zend. In ähn­li­cher Wei­se bestürzt, so den­ke ich mir, waren die Frau­en am Grab Jesu, von denen das selt­sa­me Oster­e­van­ge­li­um des Mar­kus erzählt. Nach dem Schock über Jesu Tod hat­ten sie sich noch irgend­wie an den Ritua­len fest­ge­hal­ten, mit denen man die Toten ehrt und die Ver­bin­dung zu ihnen hält. Doch dann ist die­ses Grab auf ein­mal leer und sogar der Leich­nam Jesu als letz­ter Halt wur­de ihnen noch genommen.

Im Grun­de aber hält die­se Erzäh­lung mit dem Brenn­glas auf ein beson­de­res Ereig­nis nur die ganz nor­ma­le Erfah­rung unse­res All­tags fest: Die Erfah­rung der Abwe­sen­heit. Bei so vie­lem, was uns in unse­rem Leben wider­fährt, feh­len Sinn und Deu­tung, es bleibt – leer. Vie­le Deu­tun­gen drü­cken wir den Gescheh­nis­sen nur nach­träg­lich mehr oder weni­ger bemüht auf: Dass die­ser oder jener Schick­sals­schlag schon sei­nen Sinn haben wird, dass »die Wis­sen­schaft«, was immer das dann sein mag, uns das Leben erklä­ren kann, dass ein Kate­chis­mus uns sagen soll, war­um wir auf der Welt sind. Wenn wir nur ein wenig nach­boh­ren, zer­fal­len sol­che Deu­tun­gen schnell in nichts.

Im Rou­ti­ne­be­trieb von Kir­che und Glau­ben ver­su­chen wir, das Bild eines anwe­sen­den Got­tes auf­recht zu erhal­ten. Gott ist da, sagen wir und mei­nen, dass er sich zeigt als Ursa­che der Welt, als Len­ker des Schick­sals, als obers­ter mora­li­scher Gesetz­ge­ber. Sol­che Art von Prä­senz heißt aber auch: Gott ist ver­füg­bar. Er hat sich in das Bild zu fügen, das wir uns von ihm machen; hat die Rol­le ein­zu­neh­men, für die wir ihn gera­de brau­chen – mit all den Fol­gen der Bemäch­ti­gung und der Anma­ßung. Im Namen Got­tes wird bis heu­te über das Leben vie­ler Men­schen ver­fügt; es wird geprüft auf Kon­for­mi­tät mit unse­ren gesell­schaft­li­chen Vor­stel­lun­gen oder es wird aus­sor­tiert, weil es nicht einer »Schöp­fungs­ord­nung« ent­spricht, die wir zu erken­nen meinen.

II

Wie befrei­end wäre es da, wenn Gott in Wahr­heit ein Abwe­sen­der wäre! Dass das Abso­lu­te unver­füg­bar für uns ist, lehrt ja nicht nur der Bud­dha. Es ist auch eine grund­le­gen­de Ein­sicht der bibli­schen Erfah­rung mit Gott. Gott wirkt, wie es uns die Schöp­fungs­er­zäh­lung berich­tet, Gott ret­tet, wie es die Geschich­te von der Befrei­ung Isra­els aus Ägyp­ten schil­dert. Aber er tut dies im Grun­de als Abwe­sen­der; als einer, der sein Gesicht nicht zeigt, den man nicht sehen und grei­fen kann wie die Göt­ter, die in den Tem­peln auf­ge­stellt sind. Weder Mose noch Eli­ja noch sonst irgend­je­mand haben Gott gese­hen. Auch Jesus übri­gens nicht. Er hört Got­tes Stim­me in sich, er ver­traut dar­auf, dass er in ihm als sei­nem guten Vater gebor­gen ist. Spä­tes­tens am Kreuz aber erfährt auch Jesus Gott als radi­kal abwesend.

Kein Wun­der dann, dass Jesus selbst nach sei­nem Tod gewis­ser­ma­ßen ver­schwin­det und nur die Lee­re zurück­lässt, das lee­re Grab. Kei­ne Spur scheint von ihm geblie­ben. Was die Frau­en so schmerzt und ver­wirrt, will die Erschei­nung des jun­gen Man­nes am Grab ihnen als tröst­li­che und hoff­nungs­vol­le Ein­sicht ver­mit­teln: »Er ist nicht hier«, sagt sie. Es ist gut, dass er abwe­send ist und die­ses Grab leer.

In wel­cher all­täg­lich sicht­ba­ren und greif­ba­ren Gestalt hät­te Jesus denn in die­ses Leben zurück­keh­ren sol­len? Jede davon wäre eine Ent­täu­schung gewe­sen. Hät­te sie doch nur bestä­tigt, dass die Welt und das Leben nicht mehr sind als das, was wir mit den Fest­le­gun­gen und Kate­go­rien unse­res Den­kens in sie hin­ein legen. Denn das ist die unaus­weich­li­che Kehr­sei­te des­sen, dass wir alles als anwe­send, als greif­bar und prä­sent den­ken: Wir redu­zie­ren es auf die Reich­wei­te unse­res Vorstellungsvermögens.

Das lee­re Grab am Oster­mor­gen hilft uns, gera­de das, was wir lie­ben, frei zu geben. Die Lee­re ist nicht nichts. Es folgt aus ihr kein Nihi­lis­mus. Im Gegen­teil. Die Zwil­lings­schwes­ter der Lee­re ist die Fül­le. Denn Abwe­sen­heit schafft Raum. Einen Raum, in dem sich eine Fül­le von Wesen und Din­gen ent­fal­ten kön­nen, wie es uns der Schöp­fungs­be­richt erzählt. Am Anfang hat Gott selbst Platz gemacht, sich zurück­ge­zo­gen und in die Abwe­sen­heit bege­ben. Die jüdi­sche Mys­tik nennt die­sen Vor­gang »Tzimt­z­um« und deu­tet den Raum der Schöp­fung, der durch den Rück­zug Got­tes ent­steht, als krea­ti­ve Lee­re. »Leer ist die Welt«, in der Tat.

III

Wenn ich das Leben leer mache von Deu­tun­gen, die ich sel­ber in es hin­ein­le­ge, dann dür­fen Men­schen so sein, wie sie sind; müs­sen nicht frem­den Vor­ga­ben ent­spre­chen und kei­nem ande­ren Wil­len fol­gen, nicht ein­mal dem (ver­meint­li­chen) Wil­len Got­tes. Denn der hat kei­nen ande­ren Wil­len als Raum zu geben für eige­nes Leben. Wenn ich es zulas­se, dass mein Bild von Gott zer­bricht und leer wird, dann muss Gott nicht län­ger her­hal­ten als Lücken­bü­ßer, der es mir ermög­licht, mir die Welt so zusam­men­zu­rei­men, wie ich sie ger­ne hät­te. Dann darf ich dar­auf hof­fen, dass Welt und Mensch und die gesam­te Schöp­fung eine Zukunft haben, wie ich sel­ber sie mir nie­mals aus­den­ken könnte.

Es ist bezeich­nend, dass die Gestalt am Grab von Jesus sagt, er sei vor­aus­ge­gan­gen. Jesus ist abwe­send, um Zukunft zu eröff­nen. Nichts muss sein und blei­ben wie es ist. Nichts ist schon zu Ende gedacht. Genau dafür stand Jesus ja schon zu sei­nen Leb­zei­ten ein, dass alles auch anders sein könn­te. Dass wir anders mit­ein­an­der umge­hen kön­nen, ein­an­der nicht aus­gren­zen und uns nicht mit Gewalt behaup­ten müs­sen; dass wir uns vor Gott nicht fürch­ten müs­sen, auch dann nicht, wenn er uns fern und unbe­kannt erscheint. Daher heißt die Zukunft, in die Jesus geht »Gali­läa«. Sie ist dem Ursprung gleich, aus dem er kommt. Jesus knüpft an all das an, wofür er gelebt und gekämpft hat. Und Gott gibt ihm recht.

Gera­de als Abwe­sen­der hat Jesus sehr wohl eine Spur hin­ter­las­sen, der wir fol­gen kön­nen. Die Spur hat er gelegt in Gali­läa mit sei­nen Wor­ten und Taten. Wir als sei­ne Jün­ge­rin­nen und Jün­ger sind ein­ge­la­den, sei­ner Spur zu fol­gen. Nicht in die Ver­gan­gen­heit, son­dern in die Zukunft mit ihm. Jesus hat sei­ner Zukunft den Namen Gali­läa gege­ben als Ort der Mensch­lich­keit und Frei­heit. Wel­chen Namen hat mei­ne Zukunft?

Anmer­kun­gen

[1] Schmidt, Kurt: Leer ist die Welt. Bud­dhis­ti­sche Stu­di­en. Bud­dhis­ti­sche Hand­bi­blio­thek 2, Kon­stanz, Chris­tia­ni, 1953.

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