Mt 4,1–11, Erster Sonntag der Fastenzeit (A)
I
Ich stehe am Steuer meines Lebensschiffes. Die Gischt schäumt um den Bug, kühn schaue ich nach vorne, den Blick in die Ferne gewandt. Wie ein Held breche ich auf ins Unbekannte, um mir meine Zukunft zu holen, von der ich geträumt habe – ein Leben, das mir gehört und das ich nach meinem Willen gestalten kann, anders als Tradition und Herkunft es mir sagen. Alle kühnen Abenteurer sind auf diese Weise aufgebrochen, angefangen von den Sagengestalten der Antike bis hin zu den Eroberern der Neuen Welt und in fernen Jahrhunderten die Mannschaft der Enterprise. »Steer your way«, »greif zum Steuer, bahn dir deinen Weg«, singt Leonard Cohen und beschwört damit für einen kurzen Moment das Bild des souveränen Steuermanns herauf. Selbst wenn ich nicht unbedingt ein Held sein will: ich brauche dieses Bild auch für mein eigenes Leben. Wenn es nichts gibt, was mich antreibt, wie sollte ich dann im Leben vorankommen? Wenn ich nicht an eine Zukunft glaube, die für mich bestimmt ist, warum sollte ich dann überhaupt aufbrechen? Es mag unterschiedlich sein, was wir am fernen Horizont für uns erhoffen. Den einen motiviert die Suche nach Erkenntnis und Wissen. Ist es nicht großartig, was es da alles zu entdecken gibt, wenn ich mich in eine Bibliothek hinein versenke oder mich in ein Labor einschließe, alles um mich herum vergesse und staunend erfahre, wie viel an Schätzen die Menschheit schon angesammelt hat: Kunst und Literatur, Theorien und Formeln, die die Welt auf den Begriff bringen. Und es lockt das Versprechen, dass da noch mehr ist, vielleicht ein ganz kleiner Baustein, der bisher noch nicht gefunden wurde und mit dem ich persönlich dazu beitragen kann, dass das Verstehen wächst, die Welt noch offener und weiter und toleranter wird. Ein anderer mag es genießen, mit organisatorischem Können und wirtschaftlichem Geschick ein Unternehmen zu leiten, etwas aufzubauen, was zum allgemeinen Wohlstand beiträgt, etwas, von dem viele profitieren, etwas von bleibendem Wert. Und für wieder einen anderen ist es die Sorge um die ihm anvertrauten Menschen, die ihn nach vorne treibt. Für andere da zu sein, darauf zu achten, dass es ihnen gut geht – ist es nicht das, was uns im Tiefsten glücklich macht?
II
Ich vermute, in dem ein oder anderen Bild finden wir uns alle irgendwie wieder und wir sind, von unseren unterschiedlichen Motiven bewegt, ja schon ein gewisses Stück vorangekommen auf unserer Lebensreise. Haben Wissen gesammelt, Qualifikationen erworben, uns in dem ein oder anderen praktischen Feld erprobt. Gewiss haben wir auch Rückschläge erlebt, aber wir haben wenigstens einige unserer Ziele erreicht. Und schauen uns am Steuer unseres Lebensschiffes zufrieden um; gleiten an Inseln mit malerischen Stränden vorbei, an dem ein oder anderen schroffen Gebirge, aber auch an besiedelten Buchten mit einladenden Häusern und freundlichen Menschen – unsere Lebenslandschaft. Was aber, wenn sich das alles bei näherem Hinsehen auf einmal als trügerisch entpuppt? Die Ansiedlungen verfallen und auf Müll gebaut, »they rise above the rot«; die Fenster der wohnlich geglaubten Häuser schauen mich mit leeren Augen an; an den einsamen Stränden stirbt die Natur und die Luft, die ich atme ist mit einem Mal schneidend und kaum zu ertragen. Meine Lebenslandschaft: ein Trümmerfeld. So mag es dem melancholischen Poeten ergangen sein, der uns in der Rückschau auf ein langes Leben den Song »Steer your way« hinterlassen hat. Alles, worauf er sein Leben gebaut und woran er geglaubt hat, zerbröselt ihm zwischen den Fingern. Meine Wahrheiten sind von gestern und gelten heute nicht mehr. Meine Sicherheit, egal ob auf wirtschaftlichen oder weltanschaulichen Fundamenten gegründet, sind ins Wanken geraten. Selbst der Glaube hat mich verlassen: die alten Geschichten von der Erschaffung der Welt und die Gleichnisse von Liebe und Güte, Frieden und Versöhnung – nicht mehr als naive Märchen. Wie konnte es soweit kommen, dass ich mich habe täuschen lassen und auf Illusionen hereingefallen bin?
III
Könnte man diese Frage auch nicht dem stellen, der uns jeden Sonntag aufs Neue Hoffnungen macht, die sich am Ende womöglich auch nur als Illusionen erweisen? Ist es tatsächlich so, dass er seiner Aufgabe nicht gewachsen war – »never equal to the task« – und uns zu viel versprochen hat? Am Ende zerschellen seine Versprechen am Schmerz. Dem Schmerz über die Endlichkeit unseres Wissens, über die Grenzen unseres Könnens und unserer Fähigkeit, die Welt ein Stück besser zu machen; über die Grenzen sogar unseres Vermögens zu lieben. Der Schmerz ist das einzig Reale. Der Stein von Golgota flüstert es mir zu, dass der Traum des Nazareners, die Menschen untereinander und mit Gott zu versöhnen, gescheitert ist. So bleibt uns am Ende nur, uns im Unvermeidlichen einzurichten und weiter unser altes Leben voller Gier und Konkurrenz zu leben: »As he died to make men holy, let us die to make things cheap.« Wäre es nicht besser gewesen, Jesus hätte die Möglichkeiten genutzt, die man ihm geboten hat? Warum hat er die Herrschaft über die Reiche dieser Welt abgelehnt? Er hätte sie doch zum Guten nutzen können. Warum hat er es abgelehnt, die Menschen mit den Gütern zu versorgen, die sie so notwendig brauchen? Es ist doch etwas Gutes, Wohlstand für alle zu schaffen. Warum hat er es abgelehnt, Gottes Macht durch ein eindeutiges Zeichen zu erweisen? Es ist doch gut, wenn die Menschen etwas haben, woran sie sich halten können. Und damit sind wir schon auf den Weg geraten, auf dem wir Luftschlösser und Illusionen bauen. Alle Theorien, alle Konzepte, alle Strategien sind nützlich, solange wir sie als etwas Vorläufiges betrachten. Verantwortungsvolle Wissenschaft kann uns vieles ermöglichen, was das Leben erleichtert. Kluge Politik und maßvolles Wirtschaften können für mehr Gerechtigkeit sorgen. Aber nichts von alledem ist absolut. Kein Wissen, kein Handeln, auch kein Glaube. Halten wir das Vorläufige für die Wahrheit und Wirklichkeit selbst, ist die Enttäuschung vorprogrammiert. Daher weist Jesus die Versuchungen, mit denen er konfrontiert wird, zurück. Er weiß, dass es nur Illusionen sind. Nur der Herr, dein Gott alleine, so Jesus, ist keine Illusion. Aber selbst unser Bild von Gott ist nur vorläufig. Denn am Ende wird Jesus auch das genommen. Wir gehen ja in dieser Fastenzeit mit ihm den Weg ans Kreuz, wo er fragen wird: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
IV
Was bleibt mir dann, wenn ich auf gar nichts mehr bauen kann? – »Steer your way«, sagt das Lied, »past the ruins, past the truth«. Es gibt also noch etwas jenseits der verloren gegangenen Sicherheiten, jenseits der entlarvten Illusionen. »Steer your way«, bleib nicht stehen, geh weiter. Es ist unvermeidlich, dass du enttäuscht wirst. Es ist unvermeidlich, dass dein Wissen dir fragwürdig wird, gerade dann wenn du dich leidenschaftlich um Wissen bemühst. Es ist unvermeidlich, dass du in die Irre gehst, gerade dann, wenn du aufrichtig nach Wahrheit strebst. Es ist unvermeidlich, dass deine Zuneigung ins Leere läuft, dass du Schmerzen erleidest, dass du selber schuldig wirst. Aber das alles ist kein Grund stehen zu bleiben und deine Suche aufzugeben. »Steer your way«, suche nach der Liebe, die keine Worte mehr hat, nach der Wahrheit, die nicht ausgesprochen werden kann, nach dem Gott, der jedes Bild sprengt. Immer wenn du glaubst, du hättest das Letztgültige gefunden, weißt du, dass es nicht das Letzte ist. Aber du weißt auch: solange du unterwegs bist, wird der unbekannte nahe Gott dich tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt, er wird dir seine Engel senden und er ist sogar schon an deiner Seite: in Jesus, der gekommen ist, um dir und allen anderen Menschen zu dienen.
Steer your way
Steer your way past the ruins of the altar and the mall
© Leonard Cohen 2016, aus: You want it darker
Steer your way through fables of creation and the fall
Steer your way past the palaces that rise above the rot
Year by year, month by month, day by day
Thought by thought
Steer your heart past the truth that you believed in yesterday
Such as fundamental goodness and the wisdom of the way
Steer your heart, precious heart, past the women whom you bought
Year by year, month by month, day by day
Thought by thought
Steer you way through the pain that is far more real than you
That’s smashed the cosmic model, that blinded every view
And please don’t make me go there, though there be a God or not
Year by year, month by month, day by day
Thought by thought
They whisper still, the injured stones
The blunted mountains weep
As he died to make men holy
Let us die to make things cheap
And the Mea Culpa, which you probably forgot
Year by year, month by month, day by day
Thought by thought
Steer your way, O my heart, though I have no right to ask
To the one who was never, never equal to the task
Who knows he’s been convicted, who knows he will be shot
Year by year, month by month, day by day
Thought by thought
They whisper still, the injured stones
The blunted mountains weep
As he died to make men holy
Let us die to make things cheap
And the Mea Culpa, which you gradually forgot
Year by year, month by month, day by day
Thought by thought
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