Lk 1,39–56, Fest der Aufnahme Marias in den Himmel (15. August)
I
O Mensch! Gib acht!
Friedrich Nietzsche, Das trunkne Lied, aus: Also sprach Zarathustra. Vierter und letzter Teil
Was spricht die tiefe Mitternacht?
»Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
will tiefe, tiefe Ewigkeit!«
Alle Lust will Ewigkeit. Das hat Friedrich Nietzsche, aus dessen »Zarathustra« diese Zeilen entnommen sind, ganz richtig gesehen. Wir wollen es nicht akzeptieren, dass das Schöne in unserem Leben, all die vielen Erlebnisse und Erfahrungen, die uns das Leben genießen lassen, all die heiteren und frohen Stunden, die tröstenden und ermutigenden Begegnungen, einfach ins Nichts sinken.
Nietzsche warnte vor der Heraufkunft des Nihilismus, vor einer Lebensweise und Lebenseinstellung, die die tiefe Lust und Freude am Leben preisgibt und dem Nichts überantwortet. Er sah diesen Nihilismus kommen durch den Verfall derjenigen Werte, an denen sich die Menschheit bisher festgehalten hatte: Autoritäten, denen blinde Gefolgschaft geleistet wurde, die sich aber als hohl und unfähig erwiesen, Staatsgebilde, die keinem Sinn verpflichtet waren, außer der eigenen Bestandserhaltung, eine Moral, die nichts als Lüge war und die die Lebensfreude nicht fördert, sondern erstickt. Das alles ist nihilistisch, weil es das Leben verneint, anstatt es zu bejahen. Heute würde Nietzsche womöglich in unserer durch und durch von der Ökonomie beherrschten Welt die Vollendung des Nihilismus sehen: alles, was es gibt, nicht nur Wohlstand und materielle Güter, sondern auch die Natur, Gesundheit, Bildung und Freundschaft kann man in Geld umrechnen und damit die Frage verbinden: Was bringt mir das? Was ist es wert? Alles lässt sich nach dem gleichen Wertmaßstab messen, hat keinen eigenen Wert – und ist am Ende darum gar nichts wert. Einfach nichts.
Auch das Christentum war für Nietzsche so ein Stück Nihilismus: Nicht nur zeigt die Kirche alle Merkmale nihilistischer Organisationen in ihrem Verlangen nach unbedingter Gefolgschaft und ihrem kompromisslosen Streben nach dem eigenen Machterhalt – was durch die Missbrauchskrise auf bittere Weise ans Licht getreten ist. Auch der christliche Glauben selbst scheint all das, was wir handfest als schön und genussvoll erfahren können, dem Untergang weihen zu wollen. Wir werden dazu angehalten, die sogenannten »irdischen Freuden« preiszugeben um des höheren Gutes des Himmels willen. Für dieses abstrakte und vage Versprechen eines besseren Jenseits wird das Hier und Jetzt, das wirklich und leibhaftig Schöne und Gute geopfert.
II
Gegen den Nihilismus – dagegen dass die Schönheit des Lebens und die Freude daran nichts mehr wert sind – setzt Nietzsche sein großes Ja zum Leben. Das war für ihn der Gedanke der ewigen Wiederkehr: nichts vergeht, sondern alles, was ist und was geschieht, kommt immer aufs Neue wieder. Aktuell stehen technologische und medizinische Visionen hoch im Kurs, die das menschliche Leben nicht nur in nie gekannter Weise auf Jahrhunderte verlängern [1], sondern auch den menschlichen Körper durch Implantate oder genetische Veränderungen verbessern wollen. Diese transhumanistischen Bewegungen finden sogar ein Echo in Teilen der Theologie, die darin eine Erfüllung der menschlichen Ewigkeitshoffnung erblicken will [2]. Damit könnte Nietzsches Traum einer ewigen Bejahung dieses Lebens tatsächlich möglich werden.
Aber wäre das wirklich besser? Wenn es mit uns ewig so auf Erden weiterginge, hunderte oder tausende von Jahren und wieder und wieder, dann wären wir auf immer und ewig gefangen in diesem irdischen Dasein ohne Aussicht auf Entrinnen – gefangen in unserer Unwissenheit, gefangen in den Grenzen unserer Vorstellungskraft, in den Grenzen unserer Fähigkeit zu handeln, ja sogar zu lieben. Als wahre Horrorvision schildert dies die Episode »Todessehnsucht« der Science Fiction-Serie »Star Trek: Raumschiff Voyager«; dort bittet ein Angehöriger der Q, die innerhalb des endlichen Universums quasi-allmächtig und unsterblich sind, um Asyl auf der Voyager, weil er das unendliche Immer-Weiter-So nicht mehr ertragen kann und daher freiwillig aus dem Leben scheiden möchte [3].
Mag unser Herz noch so groß und weit sein, es kann nicht alles erkunden, nicht alles fühlen, nicht alles kennenlernen, nicht alles erleben, was es auf dieser Welt gibt. Nur einen winzig kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit können wir erfahren und die Älteren unter uns wissen es: je länger wir leben, desto mehr werden uns auch unsere Grenzen bewusst. Alle Lust will Ewigkeit, aber sie will auch Unendlichkeit, will die Aufhebung und Überwindung unserer menschlichen Begrenztheit. Dagegen ist die Vorstellung von einem wie auch immer schönen Leben, das ewig auf dieser Erde weiterginge, eine »schlechte Unendlichkeit«. Treffend bringt dies G.W.F. Hegel in seiner »Wissenschaft der Logik« auf den Punkt: »Diese schlechte Unendlichkeit ist […] ist zwar die Negation des Endlichen, aber sie vermag sich nicht in Wahrheit davon zu befreien; dies tritt an ihr selbst wieder hervor, als ihr Anderes, weil dies Unendliche nur ist als in Beziehung auf das ihm andere Endliche. Der Progreß ins Unendliche ist daher nur die sich wiederholende Einerleiheit, eine und dieselbe langweilige Abwechslung dieses Endlichen und Unendlichen.« [4]
Schlecht ist diese Form der Unendlichkeit deswegen, weil sie uns Menschen keine Perspektive gibt auf ein Leben, das über unsere Grenzen hinausweist, auf ein Leben, das nur die Berührung mit einer ganz anderen Wirklichkeit und die Gemeinschaft mit demjenigen uns gewähren könnte, den wir Gott nennen.
III
Davon, von der Ewigkeit und Unendlichkeit der Lust am Leben spricht das Fest des heutigen Tages. Maria, so heißt es da, ein Mensch, der stellvertretend steht für alle Menschen, wurde aufgenommen in den Himmel. Das also ist nach christlicher Überzeugung unsere Zukunft und unsere Perspektive, nicht die schlechte Unendlichkeit des immer-weiter-so auf dieser Erde, sondern die wirkliche Unendlichkeit, geschenkt durch die unendlichen und unbegrenzten Möglichkeiten Gottes. »Himmel« ist dabei natürlich kein Ort irgendwo über den Wolken oder in den Weiten des Universums, sondern dieses Wort ist ein Bild für etwas, was wir uns nicht ausmalen können, für den lebendigen Gott und das Leben mit ihm, das uns versprochen ist. Deshalb feiern wir diesen Tag der Aufnahme Marias in den Himmel, weil wir heute daran denken, dass Gott an einem Menschen das vorweggenommen hat, was uns allen zugesagt ist: Ein Leben, in dem die Grenzen des Verstehens aufgehoben sind, in dem sich uns der Sinn von allem erschließt. Ein Leben, in dem wir uns mit allen anderen Wesen verbunden fühlen, in dem uns die unendliche Vielfalt und die jetzt oft noch verstörende Fremdheit der Anderen keine Schwierigkeiten mehr bereitet, sondern froh und glücklich macht. Ein Leben, in dem es keinen Streit und keine Verletzungen mehr gibt, sondern Versöhnung und Frieden. Wir ahnen es: das wäre das wahre Leben, die wirkliche Unendlichkeit, nicht die schlechte des Immer-Weiter-So.
Dieses große Ja zum Leben, das unser Glaube am heutigen Festtag sagt, beinhaltet aber ganz wesentlich noch etwas weiteres: ein Ja zu unserem Leib. Denn ohne den Leib geht es nicht. Es ist nämlich allein unser Leib, der uns in Beziehung sein lässt zu unseren Mitmenschen und zu allen anderen lebendigen Wesen auf diesem Planeten. Wir können uns das leicht klarmachen durch ein Gedankenexperiment: Denken wir uns doch einfach einmal alle Möglichkeiten, die unser Leib uns verleiht, ganz radikal weg und fragen wir, was dann übrig bleibt. Wir werden ganz schnell merken: nichts. Gar nichts. Das Gesicht und die Gestalt eines lieben Menschen nehmen wir mit unseren Augen wahr, die vertraute Stimme mit unserm Gehör. Auch die andern Sinne – Berührung, Geschmack, Geruch – sie alle zusammen formen unser Bild der Welt so tief und unauslöschlich, dass wir ohne sie, ohne unseren Leib, keinen einzigen Gedanken fassen könnten, schon gar keinen gescheiten oder frommen. Wir haben überhaupt keine Ahnung, was ein Leben ohne Leib sein könnte, wir könnten so etwas nicht in Worte fassen, weder sagen noch denken, egal ob im Himmel oder auf Erden.
IV
Von dieser Warte aus betrachtet wird es verständlich, dass das Festgeheimnis des heutigen Tages darauf besteht: wir feiern die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel. In diesem Bildwort kommt zum Ausdruck, dass wir Menschen eine untrennbare Ganzheit sind, bei der Leib und Seele zusammengehören. Das, was wir »Seele« nennen – der innerste Kern unseres Wesens – ist nicht zu trennen von unserer konkreten, ganz einmaligen Geschichte, die wir mit unserm Leib erfahren. Und darum sind wir auch zur Gemeinschaft mit Gott nicht als reine, makellose Seelen oder Geister berufen, von aller Erdenschwere befreit – sondern als ganze Menschen, mit Seele und Leib. Jedes noch so kleine und unbedeutende Detail unserer Lebensgeschichte gehört in die »Ewigkeit«, auf die wir hoffen, mit hinein, jede Erfahrung und jedes Erlebnis, sei es freudig oder schmerzvoll.
Natürlich hat es nicht viel Sinn, sich ausdenken, wie das genau sein könnte. Auch der Gedanke des heutigen Festtages von der leiblichen Aufnahme Marias zu Gott ist ein menschliches Bild. Aber es ist ein Bild, das uns am Beispiel des Lebens Marias sagen möchte, was im Tiefsten und Letzten für uns alle gilt: Die Fülle des Lebens in Gott liegt nicht in einem weltfernen Geisterreich, sondern es ist eine Fülle, in der unsere eigene Geschichte, unser eigenes Leben unverzichtbar mit dazugehören. Und dieses Bild der Lebensfreude hat die Frömmigkeit gerade bei Maria in den buntesten Farben gemalt: mit der Schönheit der Welt, der Natur, der Blumen ist sie umgeben und selber ist sie als eine schöne Frau dargestellt, die – wie die Kunst es uns zeigt – ihrem Sohn mit Zärtlichkeit verbunden ist. Man kann sich vorstellen, dass sie gerne gelebt hat.
Alle Lust will Ewigkeit? Ganz sicher. Darin sind Nietzsche und unser christlicher Glaube sich einig (auch wenn die Christen das oft vergessen haben und die Kirche sich lange, teilweise bis heute, als eine Institution gebärdet, die die Lust am Leben verderben möchte). Der heutige Tag sagt uns: unsere Lebenslust will diese Ewigkeit nicht nur, sie bekommt sie auch. Von Gott geschenkt, so wie Maria einst wir alle.
Zum Weiterlesen
[1] Bahnsen, Ulrich: Forscher wollen das Altern besiegt haben. URL https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2019–07/verjuengung-biologie-trim-studie-gregory-fahy. – abgerufen am 2019-08-16.—ZEIT Online
[2] Göcke, Paul Benedikt: Christian Cyborgs: A Plea For a Moderate Transhumanism. In: Faith And Philosophy Bd. 34 (2017), Nr. 3
[3] Todessehnsucht. URL https://memory-alpha.fandom.com/de/wiki/Todessehnsucht. – abgerufen am 2019-08-16.—Memory Alpha
[4] Hegel, G.W.F. ; Gawoll, H.-J. (Hrsg.): Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein [1832]. Hamburg : Meiner, 1990