I
Plötzlich löst sich die Stimmenverwirrung und – ein feierlicher Schreck fährt durch die Glieder – einheitlich, klar und unmissverständlich hebt es an: qadosch qadosch qadosch elohim adonai zebaoth maleu haschamajim wahaarez kebodo (Heilig Heilig Heilig ist Gott, der Herr der Heerscharen! Himmel und Erde sind seiner Herrlichkeit voll). Ich habe das Sanctus Sanctus Sanctus von den Kardinälen in St. Peter und das Swiat Swiat Swiat in der Kathedrale des Kreml und das Hagios Hagios Hagios vom Patriarchen in Jerusalem gehört. In welcher Sprache immer sie erklingen, diese erhabendsten Worte, die je von Menschenlippen gekommen sind, immer greifen sie in die tiefsten Gründe der Seele, aufregend und rührend mit mächtigem Schauer das Geheimnis des Überweltlichen, das dort unten schläft.
Rudolf Otto, Das Heilige [1], S. 13
Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto hat in einer Synagoge in Marokko ein mystisches Erlebnis, ähnlich wie es wohl tausende Jahre vor ihm der Prophet Jesaja hatte. Wie vom Donner gerührt waren sie beide, der Prophet und der Wissenschaftler, als sie mit dem »ganz Anderen« konfrontiert wurden, der Gott immer auch ist. Jenseits aller Vorstellungs- und Denkmöglichkeiten, die uns Menschen zugänglich sind, nicht zu erfassen mit unseren Bildern und Begriffen. Da verblasst alle Theologie und Wissenschaft, da gibt es nichts mehr zu sagen und zu denken, da bleibt nur mehr ehrfürchtiges Schweigen und Staunen. Mehr noch: ein »heiliger Ernst« stellt sich ein, ein Schrecken in der Begegnung mit dem lebendigen Gott, wie er immer wieder auch in der Erfahrung biblischer Gestalten dokumentiert ist: Mose vor dem brennenden Dornbusch, Jakob im Ringen mit Gott am Fluss Jabbok, Elija in der Höhle beim Vorübergang Gottes. So unausdenkbar groß und erhaben ist der Allmächtige – »heilig, heilig, heilig« – dass alles andere vor ihm zunichte wird. Als »mysterium fascinosum et tremendum« hat Rudolf Otto daher Gott bezeichnet, als ein Geheimnis, das anzieht, lockt und fasziniert, das aber auch Schauder und Schrecken mit sich bringt.
II
Mit dem Glauben ist es also eine ernste Sache. Und mancher wird sagen: zurecht. Ist Gott doch kein Wohlfühlgott, sondern einer, der uns vor die Frage stellt, welche Bedeutung unser Leben hat, ob es scheitert oder gelingt. Und Gottes Gebote sind keine Optionen, die man sich nach Belieben aussuchen oder die man umdeuten könnte, sondern sie gelten absolut. Wo kämen wir denn hin, wenn es gar nichts mehr gäbe, was uns unbedingt bindet und verpflichtet? Wo kämen wir hin in einer Welt, in der nichts mehr gilt und jeder tun kann, was er möchte? Gott als der »ganz Andere«, für uns Menschen durch und durch Unverfügbare, setzt unserer Macht Grenzen und ist kritischer Horizont für alle menschliche Machtausübung.
Diese Sichtweise hat schon einiges für sich. Zweifellos suchen wir Menschen nach einer letzten Wahrheit für unser Leben, zweifellos sind wir aus nach einem Sinn, der nicht von menschlichen und irdischen Zufällen abhängig ist, nach einem Glück, das nicht in messbaren Leistungen und Belohnungen besteht. Aber ewas macht mich auch stutzig bei diesem Blick auf Gott und die Welt und das Leben: Es ist – konsequent zu Ende gedacht – ein Blick, der zutiefst freudlos und obendrein komplett humorlos ist; nicht nur ein heiliger, sondern ein tödlicher Ernst. So schauderhaft groß und erhaben ist Gott und so machtvoll ist, was er fordert, dass alles Menschliche dabei buchstäblich zunichte wird.
III
Wie ein solches Gottesbild auch kippen kann, zeigt uns Martin Heidegger, der – tief beeindruckt von dem Begriff des Heiligen, wie Rudolf Otto ihn entwickelt hatte – sich einen Gott wünscht, vor dem der Mensch vor allem opfert und aus Scheu auf die Knie fällt.
Vor diesem Gott [dem Gott der Philosophen] kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen.
Martin Heidegger, Identität und Differenz [2], S. 64
Das aber ist ein Gottesbild, das meine Autonomie als Mensch außer Kraft setzt. Mit diesem Gott kann ich nicht mehr sprechen, geschweige denn ihn kritisch befragen oder mit ihm streiten. Von solch einer Erhabenheit werde ich buchstäblich geplättet und auf ein winziges Pünktchen reduziert. Wie fatal das sein kann, erleben wir, wenn die Kirche als Institution oder bestimmte Gemeinschaften innerhalb der Kirche sich solch ein Gottesbild zu eigen machen, um andere Menschen damit zu beherrschen.
Dann zeigt sich, dass gerade dann, wenn wir Ehrfurcht vor Gott und seiner Erhabenheit empfinden, uns eine folgenschwere Verwechslung unterlaufen kann. Wir sehnen uns nach dem »ganz Anderen«, aber es ist nur unser eigenes Erschauern, das wir verspüren; unser Berauschtsein von etwas unausdenkbar Großem und Mächtigem – also letztlich eine Projektion.
Wir sollten daher bedenken: unsere Sehnsucht nach dem Absoluten ist noch nicht das Absolute selbst. Unser Suche nach einer letzten Wahrheit ist eben Suche, nicht schon die Wahrheit an sich. Über Gott gibt es noch etwas anderes zu sagen, als dass er heilig und erhaben ist. Gott ist auch der immer Neue, er hat eine Welt gemacht, die nicht fertig ist und er hat uns als seine Geschöpfe in diese Welt gestellt mit dem Auftrag, unseren Platz zu suchen und unser Leben nach einem offenen Plan zu gestalten. Er hat uns keine Karte in die Hand gegeben, hat nicht in Stein gemeißelt, wie die Schöpfung am Ende aussehen wird. Er hat die Zukunft, die Vollendung offen gelassen, verborgen. Darum ist unser menschlicher Lebensraum ein Zwischenraum: ein Raum zwischen Versuchen und Theorien und Experimenten, ein Raum, in dem wir nicht über alles Bescheid wissen und es aushalten müssen, dass morgen alles schon ganz anders sein könnte; ein Raum, der nur die eine Sicherheit bietet, dass Gott uns in ihn hineingestellt hat und uns ins Offene sendet, ja vielleicht, dass Gott selbst dieser Raum der offenen Möglichkeiten ist. Unsere Erkenntnis ist nie abgeschlossen ist und es macht Lust, immer weiter zu denken und tiefer zu forschen. Daraus ergibt sich die Einsicht, dass alles, was wir tun, nur vorläufig ist und dass es oft besser ist, unvollkommen zu handeln als gar nicht. Ist es nicht auch wohltuend und entlastend, nicht alles zu wissen, nicht schon von vornherein festgelegt zu sein in einem Welt- und Gottesbild, das zwar erhaben ist, aber auch starr?
Der Prophet Jesaja hat übrigens genau das erfahren: Gott löst ihn aus der Starre erhabener Ehrfurcht und schickt in hinaus in die Welt. Nur das sagt er zu ihm: Geh, ich sende dich. Ich gebe dir nicht mit, was du sagen sollst, ich gebe dir keine Garantie, dass du gehört und verstanden wirst. Du wirst ins Unklare, Zwiespältige, Gefährliche gehen, in ein unsicheres, aber eben auch nicht festgelegtes Leben, eines, das dich überraschen, beglücken, fröhlich machen wird. Du wirst lachen können, dich mit anderen freuen, wirst dankbar sein, wenn dir etwas gelingt und musst den Mut nicht sinken lassen, wenn du scheiterst.
Damit gibt Gott dem Jesaja seine Autonomie zurück. Er legt ihm eine glühende Kohle auf die Zunge, will sagen: Die Glut der Gegenwart Gottes gibt jedem und jeder die Möglichkeit, eigene, nicht fremdbestimmte Worte zu finden. Jesaja wird klar, dass sein prophetischer Auftrag genau darin liegt, als unvollkommener Mensch allein mit seinem Gewissen und seiner Autonomie nach den Spuren Gottes in unserer Welt zu suchen – und diese Spuren für andere offen zu legen. Lustig im oberflächlichen Sinne ist das nicht immer. Aber schön und verlockend ganz sicher.
Anmerkungen
[1] Otto, Rudolf: Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München : C.H.Beck, 2004—ISBN 3406510914
[2] Heidegger, Martin ; Beierwaltes, W. (Hrsg.): Identität und Differenz, Klostermann RoteReihe. 2. Aufl. Frankfurt am Main : Vittorio Klostermann, 2011—ISBN 9783465041283
Bild: Synagoge in Casablanca, © leospek / Adobe Stock