Mehr Rebellion wagen: Pink Floyd für die Ukraine

·

Sonnenblumen Ukraine

„We don’t need no education“ hörte ich am Schreibtisch, an dem ich meine Hausaufgaben machte, vom nahen Straubinger Eisstadion herauf klingen. Ich war knapp 14, ein recht ruhiger Jugendlicher, ordentlicher Schüler und Ministrant. Jede Woche hatte ich Klavierstunde und hörte nur zaghaft etwas anderes als klassische Musik. Aber erzogen werden wollte ich nicht und so stimmte ich den Klängen, die da in mein Zimmer drangen, aus vollem Herzen zu.

Etwa zur selben Zeit hatte ich meine erste Stereo-Anlage bekommen, silbern glänzende Geräte der Marke GRUNDIG von Radio Hochreiter. Auf dem Plattenteller drehte sich Chopin, gespielt von Artur Rubinstein. Rockmusik hatte kein hohes Ansehen bei uns zu Hause – zu laut, zu vulgär – und bei aller Abneigung gegen das Erzogenwerden teilte ich diese Einstellung. Trotzdem kam irgendwie das Doppelalbum mit dem Song aus dem Eisstadion in meine Plattensammlung: „The Wall“ von Pink Floyd. Ich weiß noch genau, wie diese völlig neuen Klangwelten mich förmlich umhauten – der melancholische Gesang mit Texten voller rätselhafter Andeutungen, die psychedelischen Gitarrensolos, die Rhythmen, manchmal fließend, manchmal brutal militärisch stampfend.

Die Erfahrungen, die da besungen wurden, waren mir in vielfacher Hinsicht sehr fremd. Eine Jugend in der Nachkriegszeit, geprägt von familiären Kriegstraumata, Drogenexzessen, Scheitern und Vereinsamung. Nachvollziehen aber konnte ich die existenzielle Zerrissenheit des Protagonisten. Das ist mir am meisten von dieser und ähnlicher Musik geblieben: das Gefühl, das sie für die Uneindeutigkeit und tiefe Ambivalenz vermittelt, die das Leben unter einer scheinbar glatten und gefälligen Oberfläche durchzieht.

Einige Zeit später schenkte ich einem Freund ein Exemplar von „The Wall“, für den dies, wie er in seiner Autobiografie vermerkt, offenbar ein Anstoß zu seiner späteren Musikerkarriere wurde. Für mich traten Pink Floyd und die Rockmusik eher wieder in den Hintergrund, wenngleich die unverkennbare Ästhetik der Band mein Maßstab blieb, ob mir etwas aus der „U-Musik“ gefällt oder nicht.

Jahrzehnte später stolpert mein Ohr wieder über fremdartige Klänge, eine Mischung aus Kosakenchor und Balkan-Rock. Ein neuer Song von Pink Floyd ergibt die Internetrecherche. Erstaunlich, denke ich mir, weiß ich doch immerhin, dass die Band sich vor langer Zeit aufgelöst hat – nach dem Tod von Rick Wright und im Streit mit dem immer abgedrehteren Roger Waters.

Der junge Mann in einem der Promotion-Videos kann unmöglich zu Pink Floyd gehören. Es stellt sich heraus, dass es sich um einen ukrainischen Sänger handelt, Andriy Khlyvnyuk, der, kurz bevor er sich für den Kampfeinsatz gemeldet hat und verletzt wurde, auf Instagram einen alten ukrainischen Militärmarsch zu einem Song verarbeitet hatte. Daraus entstand mit David Gilmour, der selbst persönliche Verbindungen zur Ukraine hat, Nick Mason, Guy Pratt und Nitin Sawhney die Cover-Version „Hey, Hey, Rise Up!

Ich bin verunsichert. Brauchen wir das jetzt wieder: Widerstandslieder und Marschmusik und Kunst zur Steigerung des Durchhaltewillens? Hatten wir doch alle gehofft, das hätten wir hinter uns gelassen.

Als ich in den Song hineinhöre, werde ich sofort von dem unverwechselbaren Pink-Floyd-Sound gefangen genommen, der eine Synthese mit den osteuropäischen Klängen und der ukrainischen Sprache eingeht. Für mich steht diese Musik nicht für einen überlebten Heroismus und auch nicht für eine Verklärung von Krieg und Kampf. Pink Floyd haben eigens ihren Bandnamen wiederbelebt, um dem Widerstand der Ukraine Sichtbarkeit und Gehör zu geben. Der russische Überfall auf das Land ist nicht einfach ein „Konflikt“ und gründet nicht in unterschiedlichen Interessen, zwischen denen man einen Ausgleich herstellen könnte. Dafür hätte die Friedens- und Konfliktforschung Instrumente entwickelt und ich würde mir nichts mehr wünschen, als eine Welt, in der sie konsequent zur Anwendung kommen, in der der Ausbruch tödlicher Gewalt rechtzeitig verhindert wird, Massenvernichtungswaffen abgerüstet und unsere Ressourcen für Entwicklungsarbeit, Wissenschaft und Kultur verwendet werden. Krieg sollte keinesfalls wieder als Mittel der Politik salonfähig werden, sondern wir sollten uns noch mehr anstrengen, ihn endgültig zu überwinden.

Im Augenblick jedoch wehren sich die Menschen in der Ukraine dagegen, von einem Aggressor vernichtet zu werden. In Namen einer wahnhaften, barbarischen Ideologie wird Menschen eines anderen Landes das Existenzrecht abgesprochen, werden Zivilisten mit Raketen beschossen, die die Aufschrift „Für die Kinder“ tragen. Wir sollten Putin beim Wort nehmen. Seine Ansprachen vor und während der russischen Aggression haben uns verwirrt. Man hat sie als Ausdruck einer geistigen Störung gedeutet oder als belangloses Geschwurbel, mit dem irgendein Kriegsgrund konstruiert werden sollte. Offenbar aber meint Putin genau das, was er sagt und er handelt auch danach. Die Ukraine hat für ihn keine eigenständige Identität, keine Kultur und keine Geschichte; ihre Menschen haben als Ukrainer kein Lebensrecht. Sein Feldzug hat den Charakter eines Vernichtungskriegs. Es steht zu befürchten, dass selbst im Falle einer Unterwerfung die Ukraine gemäß dieser Ideologie ausradiert werden müsste.

Wer glaubt, er könne dies „erklären“ und zu einem „vernünftigen Kompromiss“ kommen, lässt sich im Grunde auf den Standpunkt ein, dass Menschen keine Subjekte sind, die das Recht haben, eigenständig über ihr Leben zu entscheiden, sondern macht sie zu bloßen Objekten fremder Interessen, geostrategischer Kalküle, vermeintlicher Sicherheitsbedürfnisse oder imperialen Machtstrebens. Nicht viel anders haben die Europäer über Jahrhunderte ihre Kolonien betrachtet, sie manchmal „gut behandelt“ oder auch mit Gewalt unterworfen.

„We don’t need no education, we don’t need no thought control“. Ist es nicht genau dieses Bestreben, Menschen ihren eigenen Willen auszutreiben und ihnen ihre Identität zu nehmen, die im Kleinen den Grund für große Katastrophen legen kann? Es fängt damit an, dass jemand besser zu wissen meint, wie ich mein Leben zu verstehen habe, als ich selbst; es führt dazu, dass andere umerzogen werden müssen und es endet damit, dass jemand „befreit“ werden soll, der das gar nicht will. Und das alles, wenn es sein muss, mit Gewalt. Wer sich wehrt gegen diese destruktive Pädagogik, wird gebrochen, psychisch oder physisch. Immer geht es auch um Kontrolle. Gedanken, Kulturen, Gesellschaften, die nicht unter Kontrolle sind, werden als gefährlich erachtet. So gut wie alle totalitären Systeme errichten daher Umerziehungslager, die meist ganz schnell zu Vernichtungslagern werden.

Womöglich gibt es zwischen den beiden 40 Jahre auseinander liegenden Songs von Pink Floyd eine Gemeinsamkeit: Sie treten dafür ein, dass Menschen Subjekte sein dürfen, ein selbstbestimmtes, freies Leben führen können, sich keinem fremden Willen unterwerfen müssen. „The Wall“ atmet noch den aus den 68er-Bewegungen in die 70er- und 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts geretteten Geist der Rebellion, der sich in vielen Gegenkulturen und Individualisierungsbestrebungen Ausdruck verschafft hat. Inzwischen aber scheint es so, als würden wir glauben, Menschlichkeit und Freiheit wären ohne einen Preis zu haben und – ich wage selbst kaum, das vergiftete Wort auszusprechen – ohne Opfer. Inständig wünsche ich mir, dass damit nicht das Opfer von Leben gemeint sein muss. Aber anscheinend bringen wir es nicht einmal mehr fertig, unsere Bequemlichkeit zu opfern, um einem Gewaltherrscher die Einnahmequellen zu nehmen. „We don’t need no education“ kam mit fließender Melodik daher, vermittelte aber für mich zumindest doch ein sehr trotziges und klares Nein. Etwas von diesem Nein könnten wir jetzt wieder gebrauchen – übrigens gerade auch vor Ostern. Denn das Ja zum Leben beinhaltet auch das Nein zum Tod und die Solidarität mit denen, die ihm ausgesetzt sind.

Bild (c) Markus Meilinger