Lyrik und Erleuchtung

Das Lyrik-Kabi­nett Mün­chen hat zu einem Abend unter dem Titel »Erleuch­tung: poe­ti­sche und reli­giö­se Erfah­rung« ein­ge­la­den. Hein­rich Dete­ring wird eine Run­de mit dem frisch­ge­ba­cke­nen Büch­ner-Preis­trä­ger Jan Wag­ner, dem dich­ten­den pro­tes­tan­ti­schen Pfar­rer Chris­ti­an Leh­nert sowie der bilin­gua­len Lyri­ke­rin Yōko Tawa­da moderieren.

Schon vor Beginn der Ver­an­stal­tung ist das Kabi­nett völ­lig über­füllt. Dicht gedrängt wer­den die Besu­che­rin­nen und Besu­cher vom Geschäfts­füh­rer des Hau­ses, Hol­ger Pils, in die The­ma­tik ein­ge­führt. Der schlägt einen gro­ßen Bogen von Namen und Wer­ken, der mit Czesław Miłosz beginnt und über Harald Har­tung und des­sen Ein­schät­zung von Poe­sie als »Epi­pha­nie« sowie Micha­el Krü­gers Münch­ner Rede zur Poe­sie (wo er vom »Strom­schlag des Numi­no­sen« sprach) bis hin zu Les Mur­ray und Raoul Schrott reicht, wobei  letz­te­rer das Phä­no­men der Erleuch­tung in der Lite­ra­tur gewis­ser­ma­ßen von des­sen nega­ti­ver Kehr­sei­te fasst und bei der »Kunst an nichts zu glau­ben« endet. Das ist alles sehr span­nend, bleibt aber auch ein wenig beim Name­drop­ping ste­hen. Mit einem Hin­weis auf Unga­ret­tis aufs Äußers­te ver­dich­te­te Zei­le  »M’il­lu­mi­no /​ d’im­men­so« als Mani­fest des Mini­ma­lis­mus geht das Wort über an Hein­rich Dete­ring und die um ihn ver­sam­mel­te Runde.

Dete­ring ver­sucht, über den Auf­ruf von Begrif­fen wie Enthu­si­as­mus, Inspi­ra­ti­on, Epi­pha­nie, Eksta­se, Zau­ber­for­mel (die »Mer­se­bur­ger Zau­ber­sprü­che«, in denen ein tri­via­ler Anlass, näm­lich ein ver­letz­tes Pferd, zu einer wun­der­sa­men Hei­lung führt), Gebet, Lita­nei etc. plau­si­bel zu machen, dass Poe­sie mit Erleuch­tung zu tun habe und ver­weist auf Brechts Unter­schei­dung einer pon­ti­fi­ka­len und einer welt­lich geson­ne­nen Form von Dich­tung (im »Arbeits­jour­nal« von 1940).

Danach haben alle Podi­ums­gäs­te die Mög­lich­keit, sich selbst mit einem Gedicht vor­zu­stel­len. Über Chris­ti­an Leh­nert ist man dann schnell bei Luther ange­langt, der in gewis­ser Wei­se das Zen­trum die­ses Abends bil­den wird, weil die Ver­an­stal­tung im Rah­men des Refor­ma­ti­ons­jahrs 2017 ange­sie­delt ist (was zuvor nicht so ganz klar war). Leh­nert setzt sei­ne eige­ne Lyrik immer wie­der mit Aus­schnit­ten aus Luthers »Tisch­re­den« in Bezie­hung und möch­te damit eine »sinn­li­che Meta­phy­sik« stark machen, bei der die Schreib­wei­se über reli­giö­se Erfah­rung eine sehr stark kör­per­be­zo­ge­ne Dimen­si­on auf­weist. Was zunächst von der Erfah­rung der Erleuch­tung weg­zu­füh­ren scheint, erweist sich im wei­te­ren Ver­lauf doch als frucht­ba­re Hypo­the­se: wenn Lyrik als ver­dich­te­te Erfah­rung des Dies­sei­ti­gen zum Signum von Tran­szen­denz wer­den soll, dann müs­sen die Din­ge der Welt selbst sich als Sprach­zei­chen kon­sti­tu­ie­ren. Dies wird beson­ders in den Bei­spie­len aus Jan Wag­ners Werk deut­lich – nicht etwa nur in schein­ba­ren Sprach­spie­len wie dem Weg vom »Giersch« zur »Gier«, son­dern mehr noch etwa in sei­nem »ver­such über mücken« (Wag­ner, 2014), wo die Anord­nung eines Mücken­schwarms sich wie Schrift­zei­chen lesen lässt (»der stein von roset­ta ohne den stein«) und so auf poe­ti­sche Wei­se Blu­men­bergs The­se von der »Les­bar­keit der Welt« plau­si­bel gemacht wird.

An Luther ent­lang ver­läuft auch die Dis­kus­si­on über die poe­ti­sche Erfah­rung als »Blitz«. Im Anschluss an Paul Valé­ry, der vom Gedicht als Geschenk spricht, deu­tet man das Schrei­ben von Lyrik als einen alche­mis­ti­schen Vor­gang, in dem Wör­ter, Begrif­fe und Gedan­ken urplötz­lich zusam­men­schie­ßen. Cha­rak­te­ris­tisch dafür sei beson­ders der Reim, der zunächst nur als Über­bleib­sel über­kom­me­ner lyri­scher For­men gese­hen wer­den kön­ne, aber als Zusam­men­fü­gung des zunächst Bezie­hungs­lo­sen gera­de doch den tran­szen­den­ten Hori­zont im Wort offen­bar mache. Eben­so wie die Meta­pher bringt der Reim Din­ge zusam­men, die in der Wirk­lich­keit nicht mit­ein­an­der ver­bun­den sind. So wird eine Zusam­men­ge­hö­rig­keit auf­ge­deckt, die in den Din­gen ver­bor­gen war. Im »Blitz« (ob nun als exis­ten­ti­el­le Erfah­rung wie bei Luther oder als sprach­li­che wie in der Lyrik) bricht die Meta­pher zusam­men in eine Ganz­heits­er­fah­rung, der man sich dann aber wie­der nur durch eine neue Meta­pher nähern kann.

Vie­le wei­te­re Aspek­te wer­den etwas unsys­te­ma­tisch gestreift: Yōko Tawa­da schließt eben­falls an Luther an, nähert sich ihm vor allem in sei­ner Eigen­schaft als Sprach­schöp­fer und rückt in Luthers exis­ten­ti­el­ler Angst vor Gewit­ter und Blitz den Pro­tes­tan­tis­mus bei­na­he in die Nähe einer Natur­re­li­gi­on. Chris­ti­an Leh­nert ver­weist dar­auf, dass der reli­giö­sen Erfah­rung – anders als der poe­ti­schen – ein Hören vor­aus­ge­he; den­noch sei­en bei­de Erfah­rungs­for­men schwer von­ein­an­der zu unter­schei­den. Erneut zitiert Leh­nert aus den »Tisch­re­den«; eine Bemer­kung Luthers über die Augen der Vögel las­se das ewi­ge Leben zum Sprach­er­eig­nis wer­den: »Die Augen sind das herr­lichs­te Geschenk, das allen leben­di­gen Wesen gege­ben ist. Klei­ne Vögel haben die hells­ten Augen, wie Stern­lein. Sie sehen eine Flie­ge eine Stu­be weit. Aber die­se all­täg­li­chen Gaben erken­nen wir nicht. Wir sind Hans­wurs­te. Aber in dem zukünf­ti­gen Leben wer­den wir es erken­nen. Da wol­len wir denn sel­ber Vög­lein mit schö­nen, hel­len Augen machen.«

Span­nend die Schluss­run­de, wo zunächst Jan Wag­ners Gedicht »qual­le« zur Spra­che kommt, in dem eine Natur­er­fah­rung zu einem an Hegel erin­nern­den Gedan­ken ent­fal­tet wird: »qual­le /​ gefrä­ßi­ges auge, /​ ein­fachs­te unter den ein­fa­chen – /​ nur ein pro­zent trennt sie von allem, /​ was sie umgibt. /​/​ sto­ße dich wei­ter vor /​ ins unbe­kann­te: ein brenn­glas, geschlif­fen /​ von strö­mun­gen und wel­len; eine lupe, /​ die den atlan­tik ver­grö­ßert.« (Wag­ner, 2010) Indi­vi­dua­li­tät ent­steht hier durch Abgren­zung, eine Abgren­zung die das Gedicht sich zum Auge for­men lässt – und so schließt tat­säch­lich im Qual­len­au­ge des Gedichts die Welt ihr Auge auf.

Eine der­art bei­na­he schon mys­ti­sche Erfah­rung führt am Ende (wie schon zu Beginn) noch ein­mal zu Les Mur­ray (Mur­ray, 2003). Es wird erwähnt, dass alle sei­ne Gedicht­bän­de mit dem Vor­spruch »To the Glo­ry of God« über­schrie­ben sind; lei­der lässt man offen, von wel­chem Got­tes­bild Mur­ray dabei aus­geht. Mur­ray wird in Bezie­hung gesetzt zum phy­si­ko­theo­lo­gi­schen Dich­ten eines Bar­thold Hein­rich Bro­ckes, wobei aber klar gemacht wird, dass Mur­ray sich von Bro­ckes unter­schei­det, indem er gera­de kei­ne Got­tes­be­wei­se aus den Welt­din­gen kon­stru­ie­ren möch­te, son­dern sich – deu­tungs­los – ver­neigt vor allem, was ist und dabei die gan­ze Welt auch mit ihren Scheuß­lich­kei­ten in den Blick nimmt. So wird nicht nur Mur­rays bekann­tes Gedicht »Poet­ry and Reli­gi­on« auf­ge­ru­fen, son­dern auch ein Gedicht wie »The Har­leys« mit sei­ner der­ben Zeich­nung der Per­so­nen. Lei­der wird Mur­rays Reli­gio­si­tät ganz aus der Per­spek­ti­ve eines ortho­do­xen The­is­mus wahr­ge­nom­men, was sowohl zu theo­lo­gisch-phi­lo­so­phi­schen wie auch sprach­li­chen (Leh­nerts Bemer­kung Mur­ray ken­ne kei­ne Meta­pher) Fehl­ein­schät­zun­gen führt. Man bräuch­te sich nur z.B. »The Mea­ning of Exis­tence« anse­hen (das ganz ähn­lich Wag­ners »ver­such über mücken« das Bild von den Din­gen der Welt als Zei­chen ent­fal­tet) und käme schnell zu ande­ren Schlussfolgerungen.

Wie immer hät­te es bei einem solch gewal­ti­gen The­ma noch vie­les zu sagen gege­ben, aber da die Luft an die­sem hei­ßen Som­mer­abend in dem über­füll­ten Raum all­mäh­lich dünn wird, freu­en sich auch alle über das Ende, das pas­send mit Hein­rich Dete­rings Gedicht über »Wrist« (Dete­ring, 2009) als Ort, an dem die Ewig­keit beginnt, ein­ge­läu­tet wird.

Lite­ra­tur

Dete­ring, Hein­rich: Wrist. Göt­tin­gen : Wall­stein, 2009—ISBN 978–3835305199

Mur­ray, Les A.: New Coll­ec­ted Poems. Man­ches­ter : Car­ca­net Press, 2003—ISBN 978–1857546231

Wag­ner, Jan: Aus­tra­li­en. Ber­lin : Ber­lin Ver­lag, 2010—ISBN 978–3827009517

Wag­ner, Jan: Regen­ton­nen­va­ria­tio­nen. 11. Aufl. Han­ser Ber­lin : Ber­lin, 2014

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Der Regenpfeifer heißt mit bürgerlichem Namen Hermann Josef Eckl und lebt in Regensburg. Auf seiner Pinnwand können Sie Ihr Feedback hinterlassen. Hier finden Sie seine aktuelle Lektüre. Hören können Sie ihn in einigen Podcasts. Noch mehr über ihn erfahren Sie hier.

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