Ich studiere die Leserkommentare auf FAZ, Tagesschau und SPIEGEL-Online zum Besuch von Papst Franziskus in Lampedusa. Sie sind fast durchweg negativ. Ich bin nicht enttäuscht oder verwundert. Die Gründe der Ablehnung sind unterschiedlich und treffen sich vielleicht doch in einem noch zu erläuternden Punkt.
- Die übliche pseudo-kirchenkritische Besserwisserei: Was ist mit den Schätzen im Vatikan? Warum nimmt die Kirche keine Flüchtlinge auf? Die kirchlichen Positionen zur Verhütung sind schuld am Flüchtlingselend usw. Das ist teilweise unsäglich inkompetent und bar jeder Faktenbasis, man muss aber wohl eingestehen, dass die Kirche durch Fehlleistungen und Versagen (Missbrauch etc.) einen derart erschreckenden Glaubwürdigkeitsverlust selbst mitverschuldet hat, sodass man ihr nun alles zutraut, nur nichts Gutes.
- Neoliberaler Zynismus: »ich bin mir selbst der nächste«. Für einige FAZ-Leser ist nun »endgültig der Grund gekommen, aus der Kirche auszutreten«.
- Rechtskonservative Fremdenangst: »das sind doch nur Wirtschaftsflüchtlinge, die uns unseren Wohlstand wegnehmen wollen«
- Teilweise auch naziähnliches Blut- und Boden-Denken in säkular-aufgeklärter Verkleidung: man fühlt sich »allen Deutschen guten Sinnes« nahe (FAZ-Leser Willi Wiberg), lehnt aber »Brüderlichkeit« grundsätzlich ab. Eine der größten Errungenschaften der abendländischen Ethik, die universalistische Moral, wird einem Denken in den Kategorien von »Sippe« und »Volksgemeinschaft« geopfert. Nochmals der besagte FAZ-Leser: »Wenn den Griechen jetzt die Tumore durchbrechen, weil sie nichts gegen ein korruptes System hatten, das andere Länder ausplündert, und wenn die Afrikaner nach 50 Jahren Bürgerkrieg immer noch arm und elend sind, ist es deren Schuld, nicht meine. Mich interessiert das Überleben meiner Linie […]. Wer diese Meinung für zynisch hält, dem geht es entschieden zu gut.«
Das ist desillusionierend und zeigt uns: Zivilisation ist Kultur-Arbeit und wird einem nicht geschenkt. In unserer Gesellschaft gibt es seit den Anfängen des Neoliberalismus in den 80er Jahren niemanden mehr, der diese Arbeit betreibt. Unter der Decke des Rechtsstaats und der Aufgeklärtheit macht sich die alte Dumpfheit breit.
Damit will ich keineswegs berechtigte Kritik an der (katholischen) Kirche abschmettern. Aber es wäre naiv zu glauben, dass eine gesellschaftliche Mehrheit die Kirche so ganz ohne weiteres cool finden würde, wenn es ihr gelänge, sich an Haupt und Gliedern zu erneuern und die Probleme, die sich in ihr angesammelt haben, zu bewältigen. Sie muss das natürlich trotzdem unbedingt tun. Denn nur dann kann ihre Botschaft klarer und authentischer zutage treten. Aber genau diese Botschaft unbedingter Nächstenliebe wird sich dann mit Aggression und Ablehnung konfrontiert sehen. Ein authentisches Christentum, gerade ein solches, das sich auf der Höhe der Zeit befindet, wird immer provozieren. Es ist eine Provokation für Ressentiment, Unbildung, soziale Kälte und Rücksichtslosigkeit. Gesellschaften (noch mehr als Individuen) haben offenbar einen Hang dazu, wenn diesen Tendenzen nicht ständig durch Erziehung zur Demokratie und Humanität entgegen getreten wird. Die schlimmste Gefahr für eine aufgeklärte Gesellschaft ist die Einbildung, bereits aufgeklärt zu sein.