Joh 20,19–31, Zweiter Sonntag der Osterzeit
I
Kennen Sie das auch: Ich gehe durch die Straßen meiner Heimatstadt, sie sind mir vertraut, aber gerade deswegen beachte ich sie nicht weiter. Mit einem Mal bleibt mein Blick an einem Ort oder einem Haus hängen und ohne dass ich dies wollte, schießen die Erinnerungen in mein Gedächtnis. Szenen meiner Kindheit und Jugend werden wieder lebendig, Bilder steigen in mir auf, von dem, was mich unbewusst mit dieser Situation verbindet und was mich womöglich bis heute prägt. Ein Schulweg kann das sein, den ich oft und oft gegangen bin, das Haus eines Freundes aus Jugendtagen oder auch ein Geschäft, das vielleicht schon lange nicht mehr existiert.
Es erstaunt mich, wie viel an Bildern, Farben, Orten in mir auf verborgene Weise lebendig ist. Über das meiste davon kann ich nicht willkürlich verfügen, es braucht einen Anstoß, damit die Erinnerung aus dem Dunkel der Vergangenheit wieder auftaucht. Und so ein Anstoß geschieht fast immer über meinen Leib und meine Sinne: eine Farbe, ein Geruch, ein Geräusch kann das sein oder eine Kombination von alledem.
Marcel Proust beschreibt das wunderbar in seinem Romanwerk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« [1]. Der Geschmack eines in Tee getauchten Gebäcks lässt die verlorene Welt seiner Kindheit in ihm wieder auferstehen:
In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Missgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst.
Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Unterwegs zu Swann, Band 1, Frankfurt 2011.
Solche Erfahrungen machen deutlich, dass wir Menschen zutiefst leibliche Wesen sind und dass auch alles, was wir »Geist« nennen, in irgendeiner Form an unseren Leib gebunden ist. Ein kleines Gedankenexperiment kann uns das verdeutlichen: Denken wir uns doch einfach einmal alle Möglichkeiten, die unser Leib uns verleiht, ganz radikal weg, und fragen wir, was dann übrig bleibt. Wir werden schnell merken: so gut wie gar nichts. Das Gesicht und die Gestalt eines lieben Menschen nehmen wir mit unseren Augen wahr, die vertraute Stimme mit unserm Gehör. Auch die anderen Sinne – Berührung, Geschmack, Geruch – formen unser Bild der Welt so tief und unauslöschlich, dass wir ohne sie, ohne unseren Leib, keinen einzigen Gedanken fassen könnten, schon gar keinen gescheiten oder frommen. Wir haben überhaupt keine Ahnung, was ein Leben ohne Leib sein könnte, wir könnten so etwas nicht in Worte fassen, weder sagen noch denken.
II
Diese Gebundenheit unserer menschlichen Existenz an den Leib ist vielen religiösen und gesellschaftlichen Ideologien bis auf den heutigen Tag unheimlich. Sie scheint eine Abhängigkeit und auch Verletzlichkeit zu schaffen, die wir am liebsten loswerden möchten. Zur Zeit der ersten Christen gab es eine religiöse Strömung namens »Gnosis«, wörtlich »Erkenntnis«, die den Leib und alles, was damit zusammenhing, als unrein betrachtete und als Ergebnis eines kosmischen Unfalls, den man rückgängig machen müsse. Erlösung war für die Gnostiker eine Erlösung aus der Leiblichkeit.
Die heutigen Gnostiker sind vielleicht am ehesten unter den Anhängern des Transhumanismus zu finden, die davon träumen, den schwachen und hinfälligen menschlichen Leib durch technische Enhancements upzugraden und am Ende am besten das Bewusstsein in einen Computer upzuloaden, wo es unabhängig von der jeweiligen Hardware bis in alle Ewigkeit fortbestehen und sich sogar mit anderen Bewusstseinsformen verbinden könnte. Damals wie heute werden solche Utopien von der Angst vor der Sterblichkeit und Verwundbarkeit getriggert, die mit unserer unhintergehbar leiblichen Existenzform verbunden ist. Dass mein Leib anfällig ist für Krankheiten, dass er durch ein winzig kleines Virus aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann, dass er von Jahr zu Jahr in seiner Leistungsfähigkeit abnimmt, dass man jedem Gesicht die Spuren der durchlebten Erfahrungen, der glücklichen, aber auch der schweren, ansieht: All das erinnert uns daran, dass dieses irdische Leben irgendwann zu Ende geht, egal, was wir dagegen unternehmen, wie sehr wir uns schützen oder was wir an medizinischen Möglichkeiten erfinden. Leiblichkeit heißt Endlichkeit.
III
Aber womöglich ist das nur die halbe Wahrheit. Denn es ist ja auch unser Leib, der uns zuallererst in Beziehung sein lässt zu unseren Mitmenschen und zu all dem anderen vielfältigen Leben, das uns umgibt. Ohne den Leib wäre mein Leben vielleicht weniger verletzlich, aber es bliebe auch durch und durch steril. Es ist sogar fraglich, ob es so etwas wie »Geist« und »Bewusstsein« ohne unseren Leib überhaupt geben könnte. Computer können geistige Prozesse nur simulieren, aber nicht selber empfinden. Ein nach dem Modell eines leiblosen Computers gedachtes »Gehirn verfügt weder über geistige Zustände noch über Bewusstsein, denn das Gehirn lebt nicht – es ist nur das Organ eines Lebewesens, einer lebendigen Person. […] Nur ein mit einem fühlenden und beweglichen Körper verbundenes Gehirn ist in der Lage, als zentrales Organ für mentale Prozesse zu dienen, denn nur durch die ständigen Interaktionen von Gehirn, Körper und Umwelt entstehen […] die Strukturen des bewussten Erlebens.«, so schreibt der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs [2].
Besonders in den vergangenen beiden Jahren der Pandemie haben wir erlebt, wie leicht unserem Denken der fühlende und bewegliche Körper abhandenkommen kann. Alte Menschen, die von ihren Angehörigen isoliert werden, verkümmern, werden schneller dement und gehen schließlich zugrunde. Kinder und Jugendliche, denen die entwicklungspsychologisch notwendigen Kontakte zu Gleichaltrigen versagt werden, entwickeln Verhaltensauffälligkeiten. Und wir alle haben es tagtäglich gemerkt, wie unbefriedigend rein virtuelle Kontakte bleiben, wenn ich Menschen, die mir nahestehen, nicht berühren kann. Eine Video-Konferenz schafft eben nur vermeintliche Nähe, betrügt uns aber um das, was ein lebendiger Geist braucht, um wirklich denken und fühlen zu können.
IV
Daher ist es kein Wunder, dass Jesus sich seinen Freundinnen und Freunden in leiblich vermittelten Begegnungen als der Auferstandene und Lebendige zeigt. Auch heute im Evangelium wird uns das wieder so geschildert. Jesus haucht die Jünger an, so heißt es da, und spricht ihnen auf diese Weise seinen Frieden zu. Es ist eine ganz zarte, ungeheuer flüchtige Berührung, die in so einem Hauch geschieht. Und doch ist sie spürbar und kann Menschen verändern, wie der zarte und flüchtige Geschmack eines Gebäcks oder die Erinnerungsbilder bei einem Spaziergang durch die Gassen meiner Kindheit und Jugend. Erst diese in irgendeiner Weise leibliche Begegnung mit Jesus lässt die Jünger gewiss sein, dass er lebt. Denn ihnen geht es genauso wie uns mit unseren inneren Bildern: Jetzt steigen in ihnen die Erinnerungen wieder auf, wer Jesus wirklich war und was er getan hat. Dass er Menschen nicht nur mit guten Worten abgespeist, sondern sie wirklich berührt und auf diese Weise wieder heil und ganz gemacht hat: die Aussätzigen, die von seelischen Störungen Geplagten, ja sogar die, die sich schon wie tot fühlten.
Durch die Berührung, durch den leiblichen Kontakt vermittelt Jesus seinen Freundinnen und Freunden den Frieden. Es ist nicht ohne Grund der verwundete Jesus, von dem dieser Friede ausgeht. Durch seine Wunden legt Jesus ein lebendiges Zeugnis dafür ab, dass uns die unserem Leib geschuldete Verletzlichkeit nicht in Panik versetzen muss. Wir müssen es nicht verdrängen, dass wir nur in einem sterblichen Leib wahrhaft Mensch sein können. Jesus ermutigt uns, dass wir unseren Leib wieder schätzen und lieben lernen und alles, was zu dieser Leiblichkeit dazugehört. Das Fühlen, Sehen, Schmecken, Hören, Riechen eröffnet uns Glück und Genuss, die uns ohne unseren Leib auf immer versagt blieben und ohne die das Leben sich gar nicht wirklich lohnen würde.
Als er mit seinen Händen den verwundeten Leib Jesu berührt, spürt der Thomas diesen Frieden. Die Angst weicht dem Glück. Auch wir können diesen Frieden und dieses Glück genießen, wenn wir uns berühren lassen von all dem Wunderbaren, Großartigen und Schönen um uns herum. Es ist Gottes Geist, der uns dann trifft wie ein Hauch.
Anmerkungen
[1] Vgl dazu auch: Fuchs, Thomas: Leib, Raum, Person: Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2018, S. 320f.
[2] Fuchs, Thomas: Person und Gehirn. Zur Kritik des Zerebrozentrismus, in: Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie, Frankfurt 2020, S. 198.
Bild © Cristina Conti / Adobe Stock