LK 24,1–12, Osternacht C
I
Wir schreiben den 13. Januar 1982; eine Boeing 737 startet unter schwierigen Wetterbedingungen vom Washington International Airport und kollidiert wenig später mit einem hoch aufragenden Brückenpfeiler. Mitten in einem dicht besiedelten Gebiet stürzt das Flugzeug in den zu dieser Jahreszeit eiskalten Potomac River. Einige Passagiere überleben den Absturz und treiben nun zwischen den Trümmern des Flugzeugwracks hilflos im Wasser – ohne Rettungswesten, denn unmittelbar nach dem Start hatte niemand mit so einer Situation gerechnet. Es ist allenfalls eine Frage von Minuten, bis man da die Kraft verliert und untergeht.
Was tun Menschen, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht und mit dem Schlimmsten rechnen müssen? Es ist ganz unterschiedlich, wie man sich in solcher allerhöchsten Not verhalten kann. Manche verlieren womöglich nach dem ersten Schock den Mut und fügen sich in das Unvermeidliche. Andere wehren sich und versuchen sich so lange es geht über Wasser zu halten. Und wieder andere gehen vielleicht sogar aufeinander los, kämpfen um den letzten Strohhalm, an dem sie sich festhalten können. Not lehrt beten, sagt das Sprichwort. Vielleicht tun einige das auch, aber nicht immer weckt die Not das Beste in uns Menschen.
Auch wenn wir selber hoffentlich niemals in derartige Situationen kommen, kennen wir doch Vergleichbares aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben oder sogar aus eigener Erfahrung. Dass ich in eine Lage gerate, aus der es scheinbar keinen Ausweg mehr gibt, habe ich an Tiefpunkten meines Lebens vermutlich schon einmal erlebt. Da ist jemand in seinem Studium gescheitert, mit seiner ganzen Lebensplanung auf Grund gelaufen. Jemand anderer verliert seine berufliche Existenz und die Lebensgrundlage für sich und seine Familie. In weniger sicheren Gegenden dieser Welt tun sich noch ganz andere Abgründe auf: Menschen geraten zwischen die Fronten eines Bürgerkrieges oder sind der Gewalt eines totalitären Regimes ausgeliefert, haben Gefängnis und Folter vor Augen. Gerade müssen wir zusehen, wie nur ein paar hundert Kilometer von uns entfernt ganze Städte in Schutt und Asche gebombt werden und die Einwohner, wenn sie denn überleben, buchstäblich vor dem Nichts stehen. Nicht alle resignieren in solchen Situationen, manche kämpfen gegen das Schicksal an, leisten Widerstand gegen Diktaturen oder fliehen zumindest irgendwohin, wo es vielleicht besser ist. Hunderttausende greifen nach dem letzten Strohhalm der Hoffnung und machen sich in kleinen Booten auf einen halsbrecherischen Weg über das Mittelmeer nach Europa.
II
Im Januar 1982 gestaltet sich die Rettung der Überlebenden des Flugzeugabsturzes äußerst schwierig. Der Besatzung eines Polizeihubschraubers gelingt es schließlich über der Unglücksstelle eine Rettungsleine auszuwerfen, an der aber immer nur ein im Wasser treibender Passagier hochgezogen werden kann. Die meisten von ihnen sind so entkräftet, dass sie Mühe haben, sich an der Leine festzuhalten. Einer der Überlebenden aber ist besonnen und kräftig genug, er greift nach der Rettungsleine und reicht sie an den Passagier neben ihm, der vom Hubschrauber ans Ufer geschleppt wird. Der Hubschrauber kehrt zurück und wieder greift dieser im Wasser treibende Mann nach der Leine und reicht sie weiter. Fünf Mal geht das so, der Mann greift nach der Leine und reicht sie weiter, um jemand anderen zu retten. Ein weiteres Mal kehrt der Hubschrauber zurück, um auch diesen letzten Überlebenden zu bergen – da hat das Wrack sich gedreht und er ist untergegangen.
Was tun Menschen, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht? Wie viele wären wohl mutig und selbstlos genug, erst an alle anderen zu denken und zuletzt an sich selbst, auch dann, wenn dieses Handeln sie ihr Leben kostet? Kaum einer von uns würde sich das wohl einfach so von sich zu behaupten trauen. Und doch ist uns auch solch ein Verhalten vermutlich schon begegnet, wenngleich nicht unbedingt in der dramatischen Zuspitzung wie bei dem »man in the water« inmitten des Potomac. Aber es gibt Menschen, die sich aufzehren in der Fürsorge und Hilfeleistung für andere. In einem sozialen Beruf, als Ärzte und Pflegekräfte, wo sie so aufgehen, dass sie ihr eigenes Wohlergehen und oft auch ihre Gesundheit hintanstellen. Als Hilfskräfte in Krisengebieten oder Entwicklungsländern. Oft auch in der ganz kleinen Welt einer Familie in der Sorge für schwer kranke oder behinderte Angehörige.
Warum tut jemand so etwas? Es gibt viele Gründe, die dagegen sprechen. Ist es doch vernünftig, das eigene Wohl nicht zu vernachlässigen, denn nur, wenn ich mich selber schütze, kann ich auch andere schützen und ihnen helfen. Sehr wohl kann es Motive für eine maßlose Hilfsbereitschaft geben, die fragwürdig sind. Der Mann in den Fluten des Potomac hat vermutlich gar nicht über die Motive seines Handelns nachgedacht. Er hat keine theoretischen Überlegungen angestellt und auch keinen Ethikrat befragt – dann wären alle tot gewesen. Er hat einfach das Leben ganz ungeheuer geliebt, sicher sein eigenes, aber noch mehr das seiner Mitmenschen. Der Mann hat den Tod nicht gesucht, um damit irgendetwas zu demonstrieren. Er hat sich nur völlig selbst vergessen, aus Solidarität mit den Anderen, aus Ehrfurcht vor deren Leben und aus der Bereitschaft, zuerst für die Schwächeren da zu sein.
III
Und wie war das bei Jesus? Er wurde, so heißt es gekreuzigt, um uns Menschen damit von unseren Sünden zu erlösen. Hatte Gott solch ein Opfer nötig, brauchte er unbedingt diesen Tod und wollte Jesus ihn? Alles, was wir von Jesus wissen, deutet darauf hin, dass es auch ihm um das Leben ging, nicht um den Tod. Er hat gern gelebt und hat das Leben genossen, die Schönheit der Blumen ebenso wie das Essen und Trinken mit seinen Freunden. Und solch ein schönes und gutes Leben wollte er nicht nur für sich, sondern für alle Menschen. Das war seine Mission, den Menschen zu zeigen: solch ein Leben ist möglich. Ein Leben ohne Neid und Konkurrenzkampf, ohne Hass und Gier, ohne Machtausübung und Gewalt. Und eigentlich ist so ein Leben sogar ganz leicht zu haben. Ich muss nur darauf vertrauen, dass Gott es mit mir und allen anderen Menschen gut meint, dass er uns das Leben gönnt, ohne Unterschied und ohne Vorleistung. Dann kann ich leben ohne die Angst zu kurz zu kommen, denn ich weiß: Es ist genug für alle da.
Was so einfach scheint, erzeugt aber Widerstand und Ablehnung. Denn die Lebensweise Jesu stellt eine Bedrohung dar für all jene, die ihr Leben auf den Willen zur Macht gegründet haben, auf die Herrschaft von Menschen über Menschen, auf Privilegien und Besitz. Weil Jesus das Leben liebte und weil er immer mehr Menschen so sehr von dieser Liebe zum Leben begeisterte, musste er beseitigt werden. Jesus wusste, dass er in Gefahr war, aber er ließ sich dadurch nicht beirren. Er machte einfach weiter. Die unbedingte Geborgenheit in Gott, den er seinen liebenden Vater nannte, war seine Rettungsleine – und die gab er weiter und immer wieder weiter, solange er konnte. An alle, die schon mit dem Leben abgeschlossen, keinen Mut und keine Kraft mehr hatten, einfach nicht mehr wollten: Die Kranken, für die es keine Heilung zu geben schien; die Armen, denen keiner helfen mochte; die Menschen, die unter Diskriminierung litten und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen waren; die Sünder, die im Grunde verzweifelt waren, weil sie dachten, Gott habe sie aufgegeben. An sie alle hat Jesus unermüdlich die Rettungsleine seiner Frohen Botschaft weitergereicht und sie damit vor dem Untergehen gerettet.
Darum nennt das Osterevangelium Jesus heute »den Lebendigen«, der nicht bei den Toten zu finden ist, sondern auch nach seinem Tod mitten im Leben. Jesus war auf eine einzigartige Weise lebendig und strahlte dieses Leben aus an alle um ihn herum. Wenn wir sagen, Jesus sei auferstanden, dann meinen wir: Seine Lebendigkeit war so groß und intensiv, dass nicht einmal der Tod sie auslöschen konnte. Wer Jesus begegnet ist, wer von seiner Botschaft und seiner Art zu leben zuinnerst berührt wurde, der ist überzeugt: Dieses Leben kommt von Gott, dem Ursprung und Grund allen Lebens. Das ist die letzte Rettungsleine, die auch dann hält, wenn alle anderen reißen.
IV
Ich bin nicht Jesus, ich habe nicht seine Kraft, sein Gottvertrauen, seine Lebendigkeit. Bei weitem nicht einmal habe ich den Mut des »man in the water« im Potomac. Ich muss das auch nicht haben, das wäre Anmaßung und Überforderung zugleich. Aber ich kann lernen, das Leben zu lieben, wie Jesus es uns vorgelebt hat. Und ich kann im Rahmen meiner Kräfte anderen auch so eine Rettungsleine zuwerfen. Ich kann jemandem, der alles nur mehr grau in grau sieht, helfen, wieder die bunten Farben der Welt wahrzunehmen, indem ich da bin, Zeit aufbringe, zuhöre. Ich kann jemandem meine helfende Hand reichen, der alleine nicht mehr zurecht kommt, durch einen wirklich guten Rat oder durch ganz praktische Unterstützung. Ich kann mich für soziale Gerechtigkeit und für die Bewahrung der Umwelt einsetzen durch ein entsprechendes Engagement und vor allem durch eine Umstellung meiner Lebensweise. Eigentlich ganz schön viele Rettungsleinen, die ich auswerfen kann.
Die Identität des »man in the water« war zunächst unbekannt. Später dann, als man seinen Namen ermittelt hatte, wurde die Brücke, an der sich das Unglück ereignet hatte, in »Arland D. Williams Jr. Memorial Bridge« umbenannt. Wir sind alle schon umbenannt in unserer Taufe. Da haben wir den Namen Jesu Christi bekommen. Ostern wird es für uns, wenn wir anfangen, nach diesem Namen zu leben und aufstehen gegen den Tod.
Zum Weiterlesen
Vor vielen Jahren habe ich die Geschichte des »man in the water« zum ersten Mal von meinem theologischen Lehrer in Freiburg, Hansjürgen Verweyen gehört. Es lohnt sich, den Kontext nachzulesen, in dem diese Geschichte bei ihm steht, z.B. in: Verweyen, Hansjürgen, Gottes letztes Wort. Grundriss der Fundamentaltheologie, Regensburg : Pustet, 2002.
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