LK 24,1–12, Osternacht C
I
Aus dem Dachstuhl von Notre-Dame in Paris schlägt lichterloh das Feuer. Eine Zeitlang ist nicht klar, ob diese Kirche gerettet werden kann. Erschütterung bricht sich auch in ganz und gar weltlichen Beobachtern des Geschehens ihre Bahn: beinahe, so heißt es, wären das »Herz und die Seele« einer Nation, ja ganz Europas, in Schutt und Asche gelegen. Schon ist von einer notwendigen Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln die Rede, und sogar davon, dass die säkulare Kultur durch den Verlust des Glaubens diese Katastrophe irgendwie mit verschuldet hätte [1]. Jetzt habe man es buchstäblich vor Augen, wie mit dem Glauben auch die eigene Identität verloren ginge. – Wenn das die Konsequenz aus dem Brand der Kathedrale von Notre-Dame sein sollte, dann wäre es vielleicht besser gewesen, sie wäre ein Raub der Flammen geworden, so sehr es mir bitter leid getan hätte um dieses unersetzliche Zeugnis europäischer Geschichte und Kultur.
Aber noch schlimmer als ein solcher Verlust wäre es, wenn wir Gott identifizieren würden mit der mystischen Aura eines Bauwerks, mit dem Stolz auf eine große Geschichte oder gar mit der Macht, die durch solche symbolischen Repräsentationen des Göttlichen ausgeübt wird. Gehört doch das, wonach manche sich jetzt offenbar wieder so sehr sehnen, eben zu den Gründen, warum der Glaube nicht erst in den Flammen von Notre-Dame verbrannt ist, sondern schon lange vorher in den Herzen so vieler Menschen zu Asche wurde. Als identitätsstiftender Faktor hat der Glaube zweifellos eine über Jahrhunderte bis hinein in unsere Gegenwart äußerst stabile Ordnung etabliert. Eine Ordnung, die Sicherheit gab, aber auch ganz genau bestimmte, wie man zu leben hatte; die festlegte, welche Lebensweisen und Lebensformen erlaubt waren und welche als »unnatürlich« galten oder als »gegen die Ordnung des Schöpfers gerichtet« (wie es manchmal immer noch heißt). Das Wort »in Stein gemeißelt« bekommt hier einen fatalen Doppelsinn. So stand und steht der Name »Gott« nicht nur für unendliche Hoffnungen nach immerwährendem Glück und unvergänglichem Leben, sondern auch für namenlosen Schrecken, für Hölle und Verdammnis und für die Auslöschung aller, die nicht an ihn glauben oder nicht so an ihn glauben wie jene, die in Gottes Namen die Macht ausüben. Denn diejenigen, die das Wissen über Gott beanspruchen und behaupten, seinen Willen zu kennen, haben damit auch die Macht über alle anderen, die nicht in dieser privilegierten Position sind. Eine Macht, die sich bis hin zu Ausbeutung und Missbrauch steigern kann und deren Mechanismen in unserer Gegenwart auf erschreckende Weise offenbar geworden sind.
Der Gott, der Sicherheit und Hoffnung geben sollte, hat sich als grausam entpuppt und als einer, dem die leidenden Menschen egal sind. So wurde die Hoffnung zum Schrecken. Bis irgendwann die Ahnung aufkeimte, dass es diesen Gott so nicht gibt, dass er unser eigenes Konstrukt ist, ein Name bloß für unsere Wünsche und Ängste und ein Instrument in den Händen der Mächtigen. Diese Einsicht hat Gott bei vielen Menschen nicht überlebt. Und ich muss sagen: Ich bin wirklich froh, dass er tot ist und ich wünsche mir nicht, dass dieses Bild von Gott aus der Asche von Notre-Dame oder anderswo wieder aufersteht. Ich bin froh, dass dieser Gott gestorben ist, diese Vorstellung, die mit so vielen menschlichen Fantasien besetzt war. Fantasien, die der Herrschaft über Menschen dienten, aber nicht zuletzt auch der Herrschaft über Gott, die Gott zum Objekt gemacht haben, zum Gegenstand, den man für die eigenen Interessen und gegen die Interessen anderer trefflich verwenden kann. Da, wo man diesen Gott noch antrifft, ist er längst entlarvt: als ein in den Himmel erhobener Patriarch, als gesellschaftliches Über-Ich, als Relikt einer verklemmten und lebensfeindlichen Moral. Angebetet nur mehr von denen, die partout nicht erwachsen werden wollen, ist er zum Gespenst geworden.
II
Jesus hingegen ist kein Gespenst, nicht als Toter und als Auferstandener erst recht nicht. Er spukt nirgendwo herum; er ist gegangen, ist weg, »nicht hier«, wie die Männer in leuchtenden Gewändern zu den Frauen sagen, die am Morgen des dritten Tages das Grab besuchen. Nicht erst in unseren Tagen, schon mit Jesus ist der Gespenster-Gott gestorben. Gestorben ist der Gott, der immer schon alles weiß und in unveränderliche, versteinerte Regeln gegossen hat, sodass es im Grunde keine Entwicklung mehr geben kann; gestorben ist der Gott, der seinen Jüngern die Sicherheit gibt, dass sie immer alles richtig machen, wenn sie ihm nur blind folgen. Gestorben ist der Gott, der alles kann, der Herrscher und König ist, unangreifbar und unbesiegbar; gestorben ist der Wille zur Macht, der seinen Jüngern Anteil gibt an der Macht. Gestorben ist der Gott, der dingfest zu machen ist, dessen Eigenschaften festgelegt sind, bekannt und analysiert durch die Dogmatik und das Lehramt der Kirche, durch den seine Jünger selbst zu Göttern werden, weil sie ihren Gott in der Hand haben.
Von diesem gestorbenen Gott bleibt auch keine Leerstelle. Nichts, was man vermissen würde jenseits oberflächlicher Identitätspolitik und regressiver Ordnungsvorstellungen. Jesus hingegen hinterlässt sehr wohl eine solche Leerstelle. Er ist, um es noch einmal mit den Worten des Evangeliums zu sagen, »nicht hier«. Und diese Leerstelle ist wesentlich für die Art und Weise, in der Jesus für Gott Zeugnis ablegen wollte; in seinem Leben bis hinein in seinen Tod. Darum wird Jesus auch nach intensiver Suche nicht gefunden; selbst Petrus bleibt verwirrt am Grab zurück.
III
Was also ist geblieben von diesem seltsamen Gott, der sich in Jesus kreuzigen ließ und sterben wollte? Geblieben ist seine Spur, geblieben ist seine Abwesenheit. Der Gott Jesu von Nazaret ist ein abwesender Gott; einer der »nicht hier« ist. Dieses »hier« ist nicht nur ein bestimmter, es ist jeder Ort, der fest bezeichnet werden könnte. Gott ist nirgendwo »hier«, er ist da nicht und da nicht und da nicht. So war Gott schon immer: Er war immer ein abwesender Gott, der nur im Vorübergang erfahren werden konnte. Das hat Jesus durch sein Leben und Sterben offenbar gemacht; deshalb heißt es von ihm, an ihm habe sich die Schrift erfüllt. Gott ist der »ich-bin-da«; aber er ist da als Abwesender: als Namenloser, Bildloser, Gestaltloser, als Feuer- und Wolkensäule, als Regenbogen, als Windhauch, der an Elija vorüberzieht; als Schatten, der dem Mose nur den Rücken zeigt [2].
Diese Abwesenheit Gottes macht Angst und verwirrt. Die Frauen freuen sich nicht am leeren Grab, sie erschrecken, und Petrus ist verwundert: θαυμάζων heißt es im Griechischen, das ist ein Gefühl der Bestürzung, in der sich das Alltägliche zum Geheimnis verwandelt. Wenn diese Tage vom Gründonnerstag über den Karfreitag und die Nacht des Karsamstags hin auf den Ostermorgen uns etwas zeigen, dann dies: Nur als Abwesender und Unverfügbarer kann Gott wirklich Gott sein für uns.
Vor gut 700 Jahren, im Herbst 1293, als die Kathedrale von Notre-Dame als bildliche Vergegenwärtigung des Göttlichen gerade in der Mitte ihrer Bauphase stand, beginnt ein junger Dominikanermönch seine Lehrtätigkeit an der Pariser Universität. Während er sieht, wie das Haus Gottes auf Erden immer kunstvoller ausgebaut wird, setzt er dazu einen Gegenakzent. Es ist der Philosoph und Mystiker Meister Eckhart, der ganz gezielt diese Leerstelle in den Blick nimmt, mit der das leere Grab Jesu wie vielleicht nichts sonst auf Gottes Wesen verweist:
Das höchste und das nächste, das der Mensch lassen mag, das ist, dass er Gott um Gottes willen lasse.
Meister Eckhart, DW I, 196, 6–7
Gott um Gottes willen lassen – damit ist auch das Geheimnis von Ostern auf den Punkt gebracht: Gottes Abwesenheit schafft einen Raum. Der Gespenster-Gott, der Macht-Gott, der dingfeste Gott, mit dem ich hantieren und über andere herrschen kann, der mich selbst beherrscht, ist weg; ich habe ihn »gelassen«. Sein Platz wird von niemandem mehr eingenommen. Während wir Gott gerne in geschlossene Denkgebäude und Räume bannen wollen [3], in Steine und Kirchen und Dogmen, ist der Gott Jesu von Nazaret ein flüchtig-vorübergehender. Erst in der Abwesenheit eines greifbaren und von Menschen klein gemachten Gottes entsteht Raum für die Spur, die auf den immer größeren Gott hinweist. Er ist »nicht hier«. Nur einen Gott, der nicht »hier« ist, kann ich suchen [4]. Nur ein Gott, der nicht »hier« ist, treibt mich an, dass ich über mich, über die Grenzen meines Wissens und Könnens, über die Grenzen meiner Erfahrung und sogar meines Denkens hinausgehe. Um Gottes willen lasse ich Gott – um seiner Spur zu folgen.
IV
Aber wo hat sie sich eingezeichnet, diese Spur des abwesenden Gottes? Einige der Spuren haben wir schon gefunden. Im Erschrecken der Frauen entdecken wir eine solche Spur: sie machen die Erfahrung, dass Gott nicht harmlos ist, dass er beunruhigt, Fragen aufreißt, Leerstellen lässt. Eine andere Spur zeigt sich in der Verwunderung des Petrus: Er sieht, dass längst nicht alles klar ist, die Welt und das Leben nicht so sind, wie er sich es zusammengereimt hatte. Nichts hören wir von einer Begegnung mit Jesus selbst; er bleibt abwesend. Erst später, wenn sie sich mit ihrer Unruhe und ihren Fragen auseinandergesetzt haben, können einige der Frauen und der Jünger Jesus sehen.
So ist die deutlichste Spur des abwesenden Gottes das Leuchten auf dem Gesicht der beiden Männer, die die Frauen am Grab antreffen. Sie leuchten nicht aus sich selbst. Die beiden waren die einzigen Zeugen der Auferstehung und davon ist der Glanz geblieben. Sie sind selbst reiner Glanz, reine Spur; sonst nichts. Wir finden diesen Glanz wieder bei allen, die sich von Jesus und seiner Botschaft haben berühren lassen. Bei allen, die anderen helfen zu wachsen und sich zu entfalten; bei allen, die ihre Mitmenschen in der Not nicht alleine lassen, die bereit sind zu teilen, weil sie spüren, dass genug Leben für alle da ist. Wir finden den Glanz bei denen, die Ertrinkende aus dem Mittelmeer bergen. Wir finden ihn bei denen, die für Traurige und Verzweifelte einfach da sind, ohne sie zu belehren. Diesen Glanz finden wir bei allen, die der Spur des verborgenen Gottes folgen, weil sie fasziniert sind von seinem Geheimnis und mit nichts anderem zufrieden. Wir finden den Glanz bei jenen, die nicht für sich in Anspruch nehmen, zu wissen, wer Gott ist und was er will und wen er ermächtigt habe, in seinem Namen zu sprechen. Wir finden den Glanz bei allen, die den Lebenden nicht bei den Toten suchen, nicht bei toten Formeln, sondern mitten im Leben in all seiner Rätselhaftigkeit.
Wenn wir einander anschauen und in unseren Augen diesen Glanz entdecken, dann könnte es sein, dass wir in die Spur gekommen sind; dass sich in uns ein Raum eröffnet, der uns auf diesen Gott hin zieht und es Ostern geworden ist in uns. Denn in uns und für uns hat er das Leben neu geschaffen.
Anmerkungen
[1] Vgl. dazu die Äußerungen von Lucetta Scaraffia in einem Kommentar für die italienische Zeitung »Quotidiano«, zusammengefasst auf katholisch.de. Zur Kritik an einer identitätspolitischen Instrumentalisierung der Kathedrale vgl. z.B. Groebner, Valentin, Das nationale Superzeichen. Notre-Dame und die Gefühle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.04.2019.
[2] »Der HERR, der an Mose vorübergeht, so daß dieser ihn nur im Vorübergehen sieht und nicht von Angesicht zu Angesicht, zeigt sich nicht in der Gegenwart bzw. als Gegenwart, sondern im Futur anterieur: Er wird vorübergegangen sein. Was davon bleibt, ›ist‹ nicht mehr, ist nicht sagbar, im Sinne der Gegenwärtigkeit verbürgenden Logik der Sprache. Was bleibt, ist eine Spur.« (Beyrich, Tilman: Ist Glauben wiederholbar?: Derrida liest Kierkegaard, Berlin – New York : De Gruyter, 2001, S. 93).
[3] Byung-Chul Han sieht die Neigung der westlichen Kultur zu geschlossenen metaphysischen Formen in deren Architektur widergespiegelt. Unter Berufung auf Hegel hält er auch das christliche Denken für ein Denken der Innerlichkeit, das sich »im ganz geschlossenen Gotteshaus« seinen Ausdruck verschafft; vgl.: Han, Byung-Chul, Abwesen. Zur Kultur und Philosophie des Fernen Ostens, Berlin : Merve, 2007, S. 43–46. Ob damit der »christliche Geist« und die breite Tradition abendländischer Philosophie wirklich umfassend getroffen sind, sei dahingestellt.
[4] Für Hartmut Rosa liegt ein zentraler Wesenszug der Moderne in dem Bestreben, sich einen immer größeren Teil der Welt verfügbar zu machen – womit aber gleichzeitig das Verfügbare verstummt und keine Beziehung mehr zu ihm hergestellt werden kann. Es wäre zu überlegen, ob dies auch für das Gottesverhältnis zutrifft: Ist Gott erst verfügbar geworden, ist er auch tot; erst wenn ich ihn in die Abwesenheit entlasse, kann er wieder zu mir in Beziehung treten. Vgl. Rosa, Hartmut, Unverfügbarkeit, Salzburg : Residenz, 2018.
Bild © Marind, Incendie de Notre Dame à Paris, vue depuis le ministère de la recherche. 7, CC BY-SA 4.0