Joh 12,24–26, Heiliger Laurentius (10. August)
I
Lange laue Sommernächte wie im Urlaub in südlichen Ländern konnten wir in den letzten Wochen genießen: draußen sitzen, die angenehme Abendluft spüren, miteinander plaudern und sich unter den Sternen am Himmel ganz leicht und frei fühlen. Nach einer kurzen Abkühlung könnte heute wieder so eine Nacht sein. Wer morgen nicht gleich früh aufstehen muss, kann sich ein Plätzchen mit freier Sicht suchen und dann mit etwas Glück etwas Besonderes am nächtlichen Himmel beobachten: Sternschnuppen. Und weil es regelmäßig um genau die Zeit des Jahres herum, wo wir das Fest des heiligen Laurentius feiern, ungewöhnlich viele Sternschnuppen sind, nennt man dieses Phänomen seit alter Zeit auch die Laurentiustränen. Man bringt diese kleinen glühenden Spuren am Himmel in Verbindung mit dem Martyrium des Laurentius, der ja in der Glut zu Tode gekommen sein soll und so ein Zeugnis für seinen Glauben abgelegt hat.
Heute wissen wir, dass die Laurentiustränen von den Trümmern des Kometen Swift-Tuttle verursacht werden, dessen Bahn die Erde seit Jahrtausenden um genau diese Jahreszeit kreuzt. Mit 200.000 Stundenkilometern rasen die winzigen Kometenteile durch die Erdatmosphäre und verglühen in großer Höhe über uns. Weil momentan Neumond ist, gibt es nicht soviel störendes Licht und die Bedingungen, um Sternschnuppen zu sehen, sind sehr günstig. Wer also die Chance hat, diese Nacht einen einigermaßen dunklen Ort zu finden, sollte dies tun. Denn: wer eine Sternschnuppe sieht, darf sich etwas wünschen.
Auch ohne ganz detaillierte astronomische Kenntnisse hatten die Menschen immer schon die Ahnung, dass die Sternschnuppen von ganz weit her zu uns kommen. Sie legen gewissermaßen Zeugnis ab für die unendliche Weite des Universums, für die riesigen Entfernungen und sein unvorstellbares Alter: Milliarden an Jahren, Milliarden und Abermilliarden an Himmelskörpern, die uns da oben am Firmament leuchten. Wenn uns ein kleines Stück dieser riesigen weiten Welt ganz nahe kommt, uns berührt und einen Augenblick für uns aufleuchtet, dann ist das wie ein Gruß, der uns Menschen an unsere Stellung im Kosmos erinnert. Daran, wie klein und zerbrechlich unsere Welt ist. Daran auch, wie begrenzt unsere menschlichen Möglichkeiten trotz der rasanten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik immer noch sind und wie sehr wir als endliche Wesen abhängig sind, von den Kreisläufen der Natur, die älter und dauerhafter und stärker sind als alles, was wir ins Werk setzen können.
II
Fragt sich nur, was wir uns denn eigentlich wünschen sollen, wenn uns solch ein Gruß aus dieser größeren und weiteren Welt des Kosmos erreicht. Gerade die ungewöhnlich klaren und heißen Sommernächte, die wir in diesem Jahr seit Wochen erleben, können uns da auf mehrfache Weise ein Denkanstoß sein. Sie sind ja von den unmittelbar positiven Effekten auf unsere Freizeit abgesehen nicht nur ein gutes Zeichen. Dass dieser Sommer einer der wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen sein wird, ist beunruhigend. Zumal er sich in eine Folge heißer Sommer einreiht, die hinter uns liegen und von denen wir mit großer Wahrscheinlichkeit in den kommenden Jahren noch mehr erleben werden. Diese heißen Sommer sind ein untrüglicher Hinweis auf den von uns Menschen durch unsere Eingriffe in die Natur verursachten Wandel des Klimas, mit dem wir unsere Erde viel mehr zum Glühen bringen, als es die Laurentiustränen jemals vermöchten.
Vielleicht also sollten wir uns mehr Bescheidenheit wünschen, mehr Vorsicht und mehr Rücksichtnahme in unserem Handeln. Mehr Respekt vor der Natur und ihrem unglaublich fein ausbalancierten Gleichgewicht, das sich nur mehr schwer oder gar nicht mehr wieder einspielt, wenn es einmal zerstört ist (vgl. Papst Franziskus: »Gott verzeiht immer, […] die Natur verzeiht nie.«, [1] S. 9). Was wir momentan mit unserem Lebensstil, der auf Überfluss und Verschwendung ausgerichtet ist, anrichten, wird unabsehbare Folgen haben nicht nur für die nächsten Jahre, sondern für Jahrhunderte und Jahrtausende. Zum ersten Mal überhaupt greifen wir so sehr in die Prozesse auf unserer Erde ein, dass man das sogar aus dem Weltraum beobachten kann. Alexander Gerst, der deutsche Astronaut, der sich momentan auf der Internationalen Raumstation ISS befindet, hat uns Bilder gesandt, die ihn selbst betroffen gemacht haben, weil man auf ihnen die über weite Landstriche ausgedörrt ausgedörrte Erde sehen kann. »Konnte eben die ersten Bilder von Mitteleuropa und Deutschland bei Tag machen, nach mehreren Wochen von Nacht-Überflügen. Schockierender Anblick.«, schreibt er auf Twitter zu seinen Beobachtungen. »Alles vertrocknet und braun, was eigentlich grün sein sollte.« [2]
Was der Astronaut aus der Distanz sieht, das können die Landwirte hier bei uns und anderswo aus nächster Nähe erleben: die ausgetrockneten Äcker lassen die Feldfrüchte verkümmern und allein bei uns in Deutschland sind dadurch Schäden in Milliardenhöhe zu erwarten. Ähnlich besorgt sind die Naturschützer: sie registrieren wie durch die Veränderungen des Klimas sich auch die Tier- und Pflanzenwelt verändert. Tierarten, die auf eine kühlere und feuchte Umgebung angewiesen sind, ziehen sich zurück, andere wandern aus wärmeren Gegenden zu uns ein und bringen damit nicht nur ein wenig Exotik zu uns, sondern womöglich auch Krankheiten aus den Tropen, auf die wir nicht eingestellt sind, vgl. diese aktuelle Meldung [3] auf tagesschau.de.
Die Folgen unseres Handelns spüren nicht nur Pflanzen und Tiere, auch wir Menschen selber werden davon erfasst. Schon jetzt werden mehr und mehr Landstriche auf unserer Erde unbewohnbar und bieten kaum noch eine ausreichende Lebensgrundlage. Die Verteilungskämpfe um ausreichend Wasser und andere natürliche Ressourcen werden zunehmen. Hunger und Armut und gewaltsame Auseinandersetzungen werden die Folge sein. Ein nicht geringer Teil derjenigen Menschen, die an den europäischen Grenzen an unsere Tür klopfen, ist vor den sich verschlechternden natürlichen Lebensbedingungen in ihrer Heimat geflohen. Und die Zahl der Klimaflüchtlinge wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiter wachsen – wahrscheinlich so sehr, dass das, was wir momentan an Flucht und Migration erleben, nur ein kleiner Vorgeschmack ist.
III
Laurentius hat also in diesen Tagen tatsächlich Tränen zu vergießen. Tränen über unsere Rücksichtslosigkeit, mit der wir die Natur ausbeuten. Über unsere Verantwortungslosigkeit, die uns immer noch nicht die Konsequenzen unseres Tuns bedenken lässt. Über unseren Egoismus in den reichen Industrieländern, mit dem wir uns an unseren Wohlstand und an unsere Verschwendung klammern. Über unsere Verblendung, die uns nicht sehen lässt, wie wir uns selber die Probleme schaffen, mit denen wir dann irgendwann nicht mehr fertig werden. Das, was die Menschen besonders in den Ländern des Südens aus ihrer Heimat fliehen lässt, wird ja zu einem nicht geringen Teil von uns in den wohlhabenden Weltgegenden verursacht. Wir blasen die Treibhausgase in die Umwelt, wir ruinieren durch wirtschaftlichen Imperialismus die Märkte anderswo und wir exportieren dann auch noch die Waffen, mit denen die Konflikte in dieser buchstäblich aufgeheizten Atmosphäre geführt werden.
Gerade der Laurentius kann uns darauf aufmerksam machen, dass wir damit nicht nur gegen jede Vernunft verstoßen, sondern auch gegen unseren Auftrag als Christinnen und Christen. Denn Laurentius war der Überlieferung nach in der frühen christlichen Gemeinde einer der Diakone. Und damit war er vor allem zuständig für die praktischen Sorgen und Nöte seiner Mitmenschen. Er hat sich besonders um die Notleidenden und Bedürftigen gekümmert, wie dies die ersten Christen als eine der wichtigsten Verpflichtungen verstanden haben, die sich aus dem Auftrag und der Frohen Botschaft Jesu ergeben. Christsein lebt aus dem Glauben und aus dem Gebet, aber es spielt sich immer in der ganz konkreten Wirklichkeit ab. Unser Glaube bewährt sich in der Art und Weise, wie wir mit den Herausforderungen umgehen, die das praktische Leben hier und jetzt uns stellt. Daher ist die christliche Urgemeinde eben nicht an Armut und Not ihrer Mitmenschen vorüber gegangen oder hat den Notleidenden einfach empfohlen, ihre Not geduldig und betend zu ertragen. Nein, sie hat eigens Gemeindemitglieder damit beauftragt, anzupacken und die Nöte zu lindern, hat dafür sogar ein eigenes Amt, nämlich das des Diakons geschaffen.
Heute sind es nicht mehr nur die Diakone, die sich beauftragt wissen sollen, ihren Mitmenschen beizustehen. Vielmehr sind wir alle ganz persönlich aus unserem Glauben heraus in die Verantwortung gerufen. Ich persönlich bin gefordert, meinen Lebensstil kritisch zu befragen. Und als Gemeinschaft, als Pfarrgemeinde und als Kirche müssen wir uns fragen lassen, ob wir zu einem nachhaltigen Handeln beitragen, das unserer Erde und der Menschheit gut tut. Nicht zuletzt Papst Franziskus mit seinem Schreiben »Laudato si‹ « [4] und vielen anderen Aufrufen erinnert uns immer wieder daran. Es mag für uns ungewohnt sein und wir tun uns vielfach noch schwer, es mit unserem Glauben in Verbindung zu bringen: Aber es geht uns auch und gerade als Christinnen und Christen etwas an, wie es um unsere Umwelt bestellt ist, wie wir die Rahmenbedingungen in Wirtschaft und Gesellschaft gestalten und wie wir uns um diejenigen Menschen kümmern, die durch wirtschaftliche oder ökologische Probleme unter die Räder zu kommen drohen. Laurentius und andere haben damit angefangen und es war kein abstrakter und weltfremder, sondern dieser ganz und gar konkrete und greifbare Glaube, den sie mit ihrem Leben bezeugt haben. So kann Laurentius mit seinen Tränen uns auch heute Mahnung und Auftrag sein, dass wir selber endlich bereit werden für die notwendigen Veränderungen in unserer Welt.
Laurentius und seine Tränen können uns aber auch Hilfe sein, wenn wir uns mit diesem Auftrag manchmal überfordert fühlen; Mutlosigkeit und Resignation sind nämlich keine sinnvolle Antwort auf unsere Probleme. Die Laurentiustränen sind Botschafter aus der unendlichen Weite des Kosmos. Sie bringen uns damit zum einen ins Gedächtnis, wie fein abgestimmt die Gesetze dieses Kosmos sind, die wir heutzutage wissenschaftlich viel besser verstehen als früher. Und sie machen uns zum anderen bewusst, dass wir aller vermeintlichen menschlichen Macht und Größe zum Trotz nur ein kleiner Teil dieses Kosmos sind und von einer größeren Macht über uns abhängen: wir sind in der Hand Gottes. Eine solche Abhängigkeit macht uns nicht klein, vielmehr bestärkt sie uns: Denn Gott liegen wir mitsamt unserer Welt am Herzen. Die Sternschnuppen sind Zeichen dafür, dass die Freuden und Leiden hier auf Erden sich am Himmel widerspiegeln und dass der Himmel die Kraft hat, alles, was für uns auf Erden schwer und schwierig ist, in etwas Gutes zu verwandeln. Bei aller Mahnung sind die Laurentiustränen daher am Ende doch zurecht ein Glückszeichen. Hinweis auf das Glück, das Gott für uns Menschen will. Gelingen wird dies freilich nur, wenn wir Gottes Angebot auch aufnehmen. Heute wäre ein guter Tag, um damit anzufangen.
Die Pfarrei St. Laurentius in Neustadt an der Donau hatte mich als Prediger zum alljährlichen Pfarrfest eingeladen. Zu diesem Anlass habe ich versucht, das traditionelle Motiv der »Laurentiustränen« mit der aktuellen Sorge um Umwelt und Klima zu verbinden. Ich danke der Pfarrgemeinde für die Einladung sowie Andrea Edenharter und Michael Hauber für den Nachweis einiger Zitate.
Anmerkungen
[1] Hellbach, Beate: Franziskus to go: Wegweisende Zitate von Papst Franziskus. Berlin : Neues Leben, 2016
[2] Alexander Gerst [@Astro_Alex]. URL https://twitter.com/Astro_Alex/status/1026581015853256705. – abgerufen am 2018-08-14.—Twitter
[3] Experten alarmiert: Tropische Zecke erreicht Deutschland.—tagesschau.de (Meldung von 14.08.2014, online nicht mehr verfügbar)
[4] Franziskus, Papst: Laudato si’. Über die Sorge für das gemeinsame Haus: Die Umwelt-Enzyklika mit Einführung und Themenschlüssel. Stuttgart : Katholisches Bibelwerk, 2015—ISBN 978–3460321342
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