Zeit, dass es Zeit wird

Lk 1,1–4; 4,14–21, Drit­ter Sonn­tag im Jah­res­kreis C

I

Coro­na

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt:
  wir sind Freun­de.
Wir schä­len die Zeit aus den Nüs­sen
  und leh­ren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spie­gel ist Sonn­tag,
im Traum wird geschla­fen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hin­ab
  zum Geschlecht der Gelieb­ten:
wir sehen uns an, wir sagen uns Dunk­les,
wir lie­ben ein­an­der wie Mohn und Gedächt­nis,
wir schla­fen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blut­strahl des Mondes.

Wir ste­hen umschlun­gen im Fens­ter,
  sie sehen uns zu von der Stra­ße:
es ist Zeit, daß man weiß!

Es ist Zeit,
daß der Stein sich zu blü­hen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.

Paul Celan ​[1]​

II

Jetzt im Win­ter sit­ze ich manch­mal am Schreib­tisch oder brü­te über einem Buch – und neben­bei kna­cke ich ein paar Wal­nüs­se. Das kann ich machen, ohne dass ich viel den­ken müss­te. Und doch kann die­se bei­na­he schon medi­ta­ti­ve Tätig­keit eini­ges in mir aus­lö­sen. Ich bre­che die Scha­len auf und löse die ganz eigen­ar­tig wie zwei Gehirn­hälf­ten geform­ten Nüs­se her­aus. Wenn sie noch frisch sind, befreie ich sie von der bit­ter schme­cken­den dün­nen Haut und genie­ße schließ­lich den unver­wech­sel­ba­ren Geschmack. Wir Men­schen sind ja Sin­nen­we­sen und vie­le prä­gen­de Erfah­run­gen sind mit sinn­li­chen Erleb­nis­sen, mit Geschmack und Geruch ver­bun­den. So gehen, wäh­rend ich die Nüs­se esse, mei­ne Erin­ne­run­gen zurück an mei­ne Kind­heit. An einen alten, wet­ter­ge­gerb­ten Mann aus dem Baye­ri­schen Wald, einen Bekann­ten mei­ner Groß­mutter, der uns jedes Jahr im Herbst fri­sche Wal­nüs­se gebracht hat. Ich erin­ne­re mich an die beson­de­re Stim­mung an den dunk­len Win­ter­ta­gen, den ers­ten Schnee­fall, den Rauh­reif am Mor­gen, den Schul­weg in der Käl­te und Dun­kel­heit. Nach und nach keh­ren dann auch die Gedan­ken, Gefüh­le und Erwar­tun­gen wie­der, mit denen ich als Kind, als Jugend­li­cher und Her­an­wach­sen­der in die Welt hin­ein geschaut habe. 

Wir schä­len die Zeit aus den Nüssen 
  und leh­ren sie gehn.

Der alte Mann aus dem Baye­ri­schen Wald hat mir viel­leicht eine ers­te Ahnung davon gebracht, dass es »da drau­ßen« eine wei­te, mir noch gänz­lich unbe­kann­te Welt geben muss­te. Mit der Zeit ist der Radi­us mei­ner Welt natür­lich grö­ßer gewor­den, aber das Unbe­kann­te ist geblie­ben: die Orte, an denen ich noch nicht gewe­sen bin, die Erfah­run­gen, die ich noch nicht gemacht habe, die Plä­ne, die ich noch nicht umset­zen konn­te. Ich wun­de­re mich, wie viel Zeit in mei­nem Leben schon ver­gan­gen ist, was ich schon alles erhofft und mir vor­ge­nom­men habe – und ich erschre­cke, dass ich so vie­les davon immer noch nicht ver­wirk­li­chen konn­te. Spä­ter – viel­leicht bald – wer­de ich dies und das tun. Ich mache der Zeit Bei­ne, leh­re sie gehen. Wer­de so und so vie­le Bücher lesen, Spra­chen ler­nen, bes­ser Kla­vier spie­len kön­nen. Und natür­lich wer­de ich eini­ges im Leben erreicht haben, habe ein Stu­di­um geschafft, mich beruf­lich eta­bliert und bin zufrieden.

Man­ches von dem, was ich mir da aus­ge­dacht habe, ist so gekom­men. Vie­les aber auch nicht. Vor allem nicht, dass ich zufrie­den bin und das Gefühl habe, ich hät­te mei­ne Zeit gut genutzt. Sie ist mir davon gelau­fen, die Zeit und je mehr von mei­nen Hoff­nun­gen und Erwar­tun­gen ich vor mir her schie­be, des­to mehr droht sie mir zu entgleiten. 

III

Es gibt aber beson­de­re Momen­te, in denen die Zeit in ihre Scha­le zurück­kehrt. Gewis­ser­ma­ßen noch ein­mal an den Aus­gangs­punkt, wo alle Mög­lich­kei­ten wie­der offen ste­hen und mei­ne Zeit sich neu ent­fal­ten kann. Augen­bli­cke des Glücks sind das, in denen wir die­ses Gefühl ver­spü­ren. Für den Dich­ter Celan ist es die lie­be­vol­le Ver­bun­den­heit mit einem ande­ren Men­schen, die das Ver­rin­nen der Zeit bändigt.

Wir ste­hen umschlun­gen im Fenster, 
  sie sehen uns zu von der Straße: 
es ist Zeit, daß man weiß!

Die Sehn­sucht nach Glück und Gebor­gen­heit, nach Ver­ste­hen und Ver­stan­den-Wer­den in einem Gegen­über erfüllt zu sehen, kann tat­säch­lich die Zeit still ste­hen las­sen. Wonach ich mich so sehr gesehnt habe, ist nun end­lich gekom­men: Mei­ne Hoff­nung war nicht ver­ge­bens und alles, was ich bis­her in der mir zur Ver­fü­gung ste­hen­den Zeit unter­nom­men habe, bekommt jetzt einen Sinn; mein Stre­ben nach Wis­sen, mein Fleiß, mei­ne Arbeit an mir sel­ber und mei­nem Cha­rak­ter. Auch mit dem Miss­lun­ge­nen und mit dem, wozu mir bis­lang die Zeit noch nicht geblie­ben war, kann ich dann ver­söhnt sein.

Aber auch ande­re Erfah­run­gen als die eines lie­ben­den Gegen­übers kön­nen ähn­li­ches Glück mit sich brin­gen: das Auf­ge­ho­ben­sein in der Har­mo­nie der Natur, das Errei­chen eines wich­ti­gen per­sön­li­chen oder gesell­schaft­li­chen Ziels, das Meis­tern einer gro­ßen Gefahr. Der Dich­ter ord­net das per­sön­li­che Ver­söhnt-Sein daher ein in eine umfas­sen­de Per­spek­ti­ve der Versöhnung. 

Mein Aug steigt hinab 
  zum Geschlecht der Geliebten: 
wir sehen uns an, wir sagen uns Dunkles, 
wir lie­ben ein­an­der wie Mohn und Gedächtnis.

Neben dem unver­kenn­bar ero­ti­schen Sinn die­ser Zei­len lässt das Gedicht hier noch etwas Ande­res anklin­gen. Mit dem »Geschlecht der Gelieb­ten« meint Celan auch das Geschlecht des jüdi­schen Vol­kes, das in der Sho­ah aus­ge­rot­tet wur­de; sei­ne Fami­lie, die voll­stän­dig ums Leben kam, die Mut­ter, deren Ver­lust er zeit­le­bens beson­ders betrau­ert. Ihnen allen gilt die Zunei­gung des Dich­ters, er liebt sie »wie Mohn und Gedächt­nis«, will sagen: immer wie­der tau­chen sie aus dem Dun­kel und dem Ver­ges­sen auf, das sie, wie ein Betäu­bungs­mit­tel aus dem Mohn gewon­nen, umge­ben hat­te und wer­den in der Erin­ne­rung leben­dig. Kann es sein, dass das Ver­lo­re­ne doch nicht für immer ver­schwun­den und ver­gan­gen ist?

Sol­che Fra­gen ken­nen wir, auch wenn unse­re eige­ne Lebens­ge­schich­te gott­lob meist nicht von der­art schmerz­li­chen Erfah­run­gen gekenn­zeich­net ist. Aber das Ver­rin­nen der Zeit und das Schwin­den der Lebens­mög­lich­kei­ten ist für einen jeden Men­schen schlimm genug. So vie­le unge­nutz­te Chan­cen, die unwie­der­bring­lich dahin sind. So vie­le fal­sche Ent­schei­dun­gen, die sich nicht mehr rück­gän­gig machen las­sen. So vie­le zer­bro­che­ne Freund­schaf­ten und Bezie­hun­gen, die Ver­let­zun­gen zurück­las­sen. Ich weiß nicht, ob ich es jemals schaf­fe, mei­ne Vor­sät­ze wenigs­tens halb­wegs umzu­set­zen. Ich weiß nicht, ob ich jemals so glück­lich und zufrie­den sein wer­de, wie ich es mir ein­mal erhofft hat­te. Zumal sich man­che Zie­le auch aus­schlie­ßen und ich auch im bes­ten Fal­le nur frag­men­ta­risch errei­chen könn­te, was ich mir wünsche.

Und nicht nur für uns per­sön­lich bedeu­tet das Ver­ge­hen der Zeit unwie­der­bring­li­che Ver­lus­te. Mehr denn je spü­ren wir heu­te, dass auch die Mensch­heit nicht unend­lich viel Zeit hat. Auf eine umwelt­ver­träg­li­che Ener­gie­ver­sor­gung kön­nen wir nicht irgend­wann spä­ter umstel­len, dann wird es zu spät sein und das Kli­ma ist schon gekippt. Um eine Lebens­wei­se, die die natür­li­che Viel­falt der Lebe­we­sen auf unse­rem Pla­ne­ten erhält, kön­nen wir uns nicht erst spä­ter bemü­hen. Dann ist es zu spät und das Arten­ster­ben nicht mehr rück­gän­gig zu machen. Eine Gesell­schafts­ord­nung, die auf Gerech­tig­keit, Tole­ranz und Soli­da­ri­tät setzt, brau­chen wir nicht erst spä­ter. Dann wird es zu spät sein und die his­to­ri­sche Frie­dens­ord­nung der letz­ten Jahr­zehn­te ist im Cha­os versunken. 

IV

Dar­um ent­hält unser Gedicht auch einen ein­dring­li­chen Appell. 

Es ist Zeit, 
daß der Stein sich zu blü­hen bequemt, 
daß der Unrast ein Herz schlägt. 
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Wir kön­nen und dür­fen nicht län­ger war­ten, um die Din­ge zu tun, die uns wirk­lich wich­tig, die für uns und unse­re Mit­men­schen ent­schei­dend sind. Es wäre fahr­läs­sig und naiv, alles auf spä­ter zu ver­schie­ben. Wenn wir immer nur dar­auf war­ten, dass irgend­wann eine Zeit kommt, in der wir uns ganz auf Freund­schaft, Mit­mensch­lich­keit, Hilfs­be­reit­schaft kon­zen­trie­ren kön­nen, aber wir jetzt erst unse­ren Geschäf­ten nach­ge­hen – dann wird die­se Zeit nie kom­men. Wenn wir immer nur dar­auf war­ten, dass irgend­wann eine Zeit kommt, in der wir unse­re Bega­bun­gen und Talen­te ent­fal­ten und uns mit dem beschäf­ti­gen kön­nen, was uns zuin­nerst am Her­zen liegt, aber jetzt nur nach äuße­ren Vor­ga­ben funk­tio­nie­ren und ein Pro­gramm abspu­len, das uns von außen auf­er­legt wur­de – dann wird die­se Zeit nie kommen.

Die Zeit, wirk­lich zu leben, ist jetzt und nicht spä­ter. Die Zeit, glück­lich zu sein ist jetzt. Die Zeit, mensch­lich mit­ein­an­der umzu­ge­hen, ist jetzt. Die Zeit, unse­re Erde für die Zukunft zu bewah­ren, ist jetzt.

Genau das meint auch Jesus [2] als er in der Syn­ago­ge von Naza­ret steht und aus den Ver­hei­ßun­gen des Pro­phe­ten­bu­ches Jesa­ja vor­trägt. Die Zeit, in der die Armen eine gute Nach­richt erhal­ten, die Trau­ern­den Hoff­nung schöp­fen, die Zer­schla­ge­nen neu­en Mut, ist nicht irgend­wann spä­ter, sie ist jetzt, sagt Jesus. Heu­te. [3]

Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.

Ob Jesus recht hat, mit dem, was er da ver­kün­det? Oder ob das auch wie­der nur lee­re Ver­spre­chun­gen sind? Das liegt letzt­lich mit an mir. Wenn ich möch­te, dass die erfüll­te Zeit – das, was Jesus das Reich Got­tes nennt – in mir und durch mich anbricht, dann muss ich auf­hö­ren, mein Leben auf spä­ter zu ver­schie­ben. Dann muss ich die zu Stein gewor­de­ne Lebens­freu­de in mir wie­der erblü­hen las­sen; dann muss ich der Unrast in mir Raum geben, die sich nicht abspei­sen lässt mit ein biss­chen Leben, son­dern die das gan­ze Leben in Fül­le will. 

Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.

Anmer­kun­gen

[1] Celan, Paul: Gesam­mel­te Wer­ke in fünf Bän­den, Ers­ter Band: Gedich­te I. Frank­furt : Suhr­kamp, 1986.

[2] Mit die­sen Über­le­gun­gen soll Cel­ans Gedicht kei­nes­wegs ver­en­gend hin auf eine Glau­bens­bot­schaft gedeu­tet wer­den. Viel­mehr will ich eine Ana­lo­gie der Hal­tun­gen auf­zei­gen, die ich sowohl im Gedicht wie im Evan­ge­li­um zu erken­nen meine.

[3] Es geht hier nicht dar­um, dass Jesus die Ver­hei­ßun­gen des »Alten Bun­des« erfüllt und die­se damit in ihrer Eigen­stän­dig­keit ent­wer­tet. Viel­mehr ist der Augen­blick, in dem Ver­hei­ßun­gen erfüllt wer­den, immer »jetzt«, bei Jesa­ja, bei Jesus und bei uns heu­te. Jedes »jetzt« hat sein eige­nes Recht.

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Der Regenpfeifer heißt mit bürgerlichem Namen Hermann Josef Eckl und lebt in Regensburg. Auf seiner Pinnwand können Sie Ihr Feedback hinterlassen. Hier finden Sie seine aktuelle Lektüre. Hören können Sie ihn in einigen Podcasts. Noch mehr über ihn erfahren Sie hier.

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