I
Ein vierundzwanzigjähriger [Student], fett, damit das Schreckliche hinter den Kulissen, welches er sah (das war seine Fähigkeit, vielleicht seine einzige) nicht allzu nah an ihn herankomme, der es liebte, die Löcher in seinem Fleisch, da doch gerade durch sie das Ungeheuerliche hereinströmen konnte, zu verstopfen, derart, dass er Zigarren rauchte … und über seiner Brille eine zweite trug, eine Sonnenbrille, und in den Ohren Wattebüschel: Dieser junge Mann, noch von seinen Eltern abhängig und mit nebulösen Studien auf der Universität beschäftigt, die in einer zweistündigen Bahnfahrt zu erreichen war, stieg eines Sonntagnachmittags in den gewohnten Zug, Abfahrt siebzehnuhrfünfzig, Ankunft neunzehnuhrsiebenundzwanzig, um anderentags ein Seminar zu besuchen, das zu schwänzen er schon entschlossen war.
Friedrich Dürrenmatt [1]
Doch auf dieser Strecke, die er oft fährt, fällt ihm auf, dass der Zug ungewöhnlich lange durch einen eigentlich sehr kurzen Tunnel rast, den er sonst nie sonderlich bemerkt hat. Die Unruhe des Studenten wächst, während die Mitreisenden nicht beunruhigt sind. Der Schaffner versichert auf Anfrage, dass alles in Ordnung sei. Der Student stößt zum Zugführer durch, der sich den langen Tunnel nicht erklären kann. Gemeinsam schaffen sie es, zur Lokomotive zu klettern. Der Führerraum ist leer: der Lokomotivführer ist schon nach fünf Minuten abgesprungen, der Zugführer hingegen an Bord geblieben, aus Pflichtgefühl und weil er schon »immer ohne Hoffnung gelebt« habe. Die Lokomotive gehorcht nicht mehr, die Notbremse funktioniert nicht, und der Zug rast immer schneller und schneller in den dunklen Abgrund.
So geschieht es in Friedrich Dürrenmatts großartiger Geschichte »Der Tunnel«. Das ist das Gefühl von Menschen, denen plötzlich, von einem Tag auf den anderen, der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Meine Lebensgrundlage, mein ganzer Lebensplan, auf den ich gebaut habe, erweist sich mit einem Mal als durch und durch nichtig. Meine Ausbildung, meine Karriere, sorgfältig geplant, fällt in sich zusammen. Ich stehe mit nichts in den Händen da, weiß nicht, was ich machen soll. Ein Partner / eine Partnerin, mit dem oder der man sich eine gemeinsame Zukunft ausgemalt hat – Haus, Familiengründung, Kinder, alles schon plastisch vor Augen – will nicht mehr mit einem zusammen sein, und man weiß gar nicht warum. Meine Gesundheit, meine Lebenskraft, auf die ich mich gestern noch verlassen konnte, sie verlässt nun mich – durch eine Krankheit, einen Unfall. Ich stürze in einen schwarzen Abgrund und frage mich, warum ich überhaupt noch da bin. Wäre es nicht besser, es gäbe mich nicht?
II
»Verflucht der Tag, an dem ich geboren wurde, ausgelöscht sei die Nacht, die sprach, ein Mann ist empfangen« (Ijob 3,3) – so klagt Ijob, der Gerechte, Liebling Gottes, als er in diesen schwarzen Tunnel stürzt, als ihm genau das, was Menschen das Liebste ist, genommen wird: Familie, Besitz, Gesundheit.
Das Lebensgefühl Ijobs hat einen Namen: Nihilismus. Die Überzeugung, dass es nichts gibt, was meinem Leben Sinn und Wert verleihen könnte. Alle Sinn- und Wertsysteme, auf die ich gebaut habe, erweisen sich als nichtig: nihil, nichts. Auch Gott erweist sich als nichtig, und es spielt gar keine Rolle, ob es ihn gibt oder nicht. Er ist nicht da, macht sich nicht bemerkbar, hilft mir nicht, lässt mich fallen – ins Nichts.
Es gibt mehr Menschen, als wir denken, die von diesem Lebensgefühl angegriffen sind, und es muss gar nicht immer ein furchtbar dramatisches Ereignis sein, das dieses Gefühl auslöst. Ich brauche ja nur in mein eigenes Leben zu schauen oder in das von Menschen, die ich gut kenne, um zu merken, wie nah wir oft am Rand dieses schwarzen Tunnels stehen. Da muss einer Tag für Tag hart um sein tägliches Brot schuften, um mühsam sein Auskommen zu sichern, Schulden abzuzahlen und irgendwie den sozialen Abstieg abzuwenden. Und er kommt und kommt nicht frei. Jahre gehen ins Land und irgendwann weiß er gar nicht mehr, wofür er das alles tut; er fällt und fällt schon immer tiefer in den schwarzen Tunnel. Oder es setzt sich einer idealistisch für eine Sache ein, investiert seine ganze Leistungs- und Schaffenskraft in ein Projekt und fragt sich eines Tages: warum mache ich das eigentlich? All der Erfolg und die Anerkennung haben mich nicht glücklich gemacht. Er schaut sich um und ist im schwarzen Tunnel. Und da ist wieder einem anderen vielleicht schlicht und einfach langweilig, todlangweilig. Nichts fehlt ihm, aber mit dem, was er hat, kann er nichts anfangen. Er hat kein Ziel, keine Motivation, nichts, was ihn vorantreibt, ihm Freude bereitet. Das Irrewerden am Leben muss nicht mit großen Schmerzen und Leiden verbunden sein, es kann ganz leidlich dahingehen, wie bei der Zugfahrt in Dürrenmatts Tunnel. Aber es genügt, dass ich nicht mehr weiß, wozu das Ganze, warum und wofür ich lebe. Ich bin im schwarzen Tunnel.
Wenn mir das widerfährt, dass ich im Tunnel stecke, dann merke ich: keiner ist da, der mich auffängt. Auch Gott greift nicht ein. So wie er bei Ijob nicht eingreift. Manchmal habe ich Glück und es taucht unverhofft Licht auf, ein Ende des Tunnels wird sichtbar. Manchmal kann ich mir helfen lassen, erfahre Unterstützung in einer schwierigen Situation, finde Menschen, die mir beistehen, mir Mut machen. Ich schaffe es, mich zu befreien, den Fall ins Dunkle zu stoppen, mühsam ans Licht zu klettern. Bewundernswert sind die Menschen, dies es aus eigenen Kräften – with a little help from their friends – schaffen, solch eine Krise zu meistern. In sehr vielen Fällen gelingt es erstaunlicherweise, dass jemand sogar ein schier unglaubliches Schicksal besiegt und sich wieder aufrappelt.
Aber es ist menschliche Leistung, eigene oder die von Freunden und Helfern, die so etwas möglich macht. Das beantwortet nicht die Frage nach Gott, der solch eine Krise, solch einen Sturz zugelassen und mich im Fallen nicht aufgefangen hat. Und am Ende, ganz am Ende meines Lebens erweist er sich trotz allen Bemühens als unvermeidlich: der Sturz ins Nichts, in den Tod, den schwarzen Abgrund.
III
Wo ist da Gott? Ich kann nur spekulieren, warum er mich so lang und allein durch den Tunnel fahren lässt. Um meine eigenen Fähigkeiten und Kräfte zu aktivieren? Um uns zur gegenseitigen Hilfeleistung zu nötigen? Um uns etwas von seinem – Gottes – Wesen nahezubringen? Denn auch er ist ja irgendwie nichts. Mit nichts vergleichbar, was unserer Erfahrung und unserem Denken entspricht.
Das alles sind Mutmaßungen, keine Erklärungen. Und doch kann dieses Ringen und Fragen und Suchen, das Fallen und Aufstehen, die Suche nach Licht im Dunkeln, kann all das die Ahnung in mir bestärken, dass er, der Abwesende, das Nichts, da ist. Das dämmert dann auch jenem ziellosen Studenten in Dürrenmatts Geschichte, der plötzlich ganz gelassen wird, dessen Leben auf einmal an Schärfe und Klarheit gewinnt. »Gott«, so sagt er, »ließ uns fallen. Und so stürzen wir denn auf ihn zu.«
Zum Weiterlesen
[1] Dürrenmatt, Friedrich: Der Hund. Der Tunnel. Die Panne. Erzählungen, Werkausgabe. Bd. 21. Zürich : Diogenes, 1998
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