Wir brechen heute sehr früh auf, weil wir eine lange Wegstrecke vor uns haben. Ich packe meine Sachen, verabschiede mich vom See Gennesaret und ab geht’s in den Bus. Zunächst die Jordansenke entlang zwei Stunden nach Süden, hauptsächlich durch palästinensisches Autonomiegebiet. Aus Bet Sche’an wurden wohl viele Palästinenser vertrieben, sodass es heute eine rein jüdische Ansiedlung ist. Viel Segen hat das nicht gebracht, denn diese Stadt wirkt (trotz südlicher Sonne ) trist, mit Plattenbauten, viel Unordnung und einem sehr provisorischen Charakter. Leider war der Ort auch immer wieder Schauplatz blutiger Anschläge arabischer Attentäter.
Wir fahren weiter an Jericho vorbei zum Jordan. Dort, nur wenige Kilometer nördlich des Toten Meers, könnte das biblische Bethanien östlich des Jordan (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Ort nahe Jerusalem) gelegen haben. Wirklich historisch verlässlich ist die Taufstelle Jesu aber nicht zu lokalisieren, wenngleich hier sogar Israel und Jordanien auf beiden Seiten des Flussufers Anspruch darauf erheben. Auf der israelischen Seite sind die Uferbefestigungen so ausgebaut, dass ganze Gruppen in das flache Wasser hineinschreiten können – was wir auch gleich erleben werden. Eine Gruppe aus Italien, in weiße Gewänder gehüllt, singt und betet – vielleicht irgendeine Neue Geistliche Bewegung. Ins Wasser gehen sie aber offenbar nicht und lassen sich auch nicht (wieder)taufen. Ganz anders die Mitglieder irgendeiner amerikanisch-indischen Freikirche, die mit einer ganzen Schar von Taufbewerbern angerückt ist, die allesamt im braunen Flusswasser untergetaucht werden. Der Pastor oder Prediger hält den auf dem Rücken im Wasser liegenden Täuflingen die Nase zu: es sieht eher aus wie der Erwerb des Seepferdchens als wie eine Taufe. Auf der gegenüberliegenden jordanischen Seite steht ein schöner Kirchenbau, die Uferanlagen aber sind einfacher gehalten und von Soldaten besetzt, die Wache schieben. Wir fahren zurück durch ehemaliges militärisches Sperrgebiet, links und rechts Landminen, dazwischen verlassene Kirchen – um ein lebendiges christliches Leben abseits des Geschäfts mit den Touristen ist es in Israel offenbar auch nicht gerade gut bestellt.
Der Bus bringt uns vom Nord- an das Südende des Toten Meeres nach Masada. Auf dem Weg sehen wir direkt neben der Straße einige Nubische Steinböcke, vermutlich aus dem nahen Naturreservat En Gedi.
Masada ist schon auf den ersten Blick außergewöhnlich beeindruckend. Kaum zu glauben, wie man vor über 2000 Jahren eine so große und technisch ausgeklügelte Festung auf der Spitze dieses massiven Felsblocks errichten konnte, der sich an der Ostseite fast 400 Meter über das Niveau der Umgebung erhebt. Wir steigen zu Fuß über den antiken Schlangenpfad nach oben.
Unsere Gruppe legt ein straffes Tempo vor und ich habe Mühe, mitzukommen. Insgesamt aber darf ich mit meiner Fitness im Vergleich zu den 20jährigen doch ganz zufrieden sein. Wie für alle Örtlichkeiten, die wir besichtigen, bräuchte man auch für Masada noch viel mehr Zeit, um sich in die historischen Details zu vertiefen. Immerhin aber merke ich bei jenen Orten, die ich – anders als Masada – bereits zum zweiten Mal besuche, dass sich die Bilder doch immer tiefer einprägen und mehr und mehr Bestandteil meiner Erinnerungslandschaft werden.
Nach einem ausführlichen Rundgang über die ausgedehnte Festungsanlage – von den Zisternen über den Taubenschlag zu den Aussichtssterrassen – steigen wir zu Fuß wieder ab. Das ist naturgemäß leichter, geht aber doch nochmal ganz schön in die Beine. Ich habe schon richtig Hunger und schlage im Touristen-Imbiss kräftig zu, auch wenn ich dabei preislich vermutlich ebenso kräftig übers Ohr gehauen werde.
Danach geht es weiter zum Toten Meer; wir fahren wieder ein Stück nach Norden zu dem Seebad, das ich schon kenne – anscheinend gibt es da nicht so viele Badestellen. Anstatt zu baden gehe ich lieber etwas spazieren und werde auf den Ruderalflächen, die an die Badeanstalt angrenzen, reich belohnt: ein Schwarm Weißflügelgimpel und endlich ein guter Blick auf einen Braunliest, den ich bisher immer nur im Vorbeifahren auf Leitungsdrähten sitzen sah. Schon in Masada konnte ich jede Menge Tristramstare beobachten und auch viele Borstenraben, die atemberaubende Flugspiele zeigten und auch ganz nah in Felsnischen kauerten. Ich musste an die Psalmen denken: »er gibt den jungen Raben, wonach sie schreien« (Ps 147). Nimmt man noch die Halsbandsittiche dazu, die ich in En Gev und auf dem Berg der Seligpreisungen gesehen habe, sowie die Streifenprinien im Taubental und auf dem Weg nach Kapharnaum und die Palmtauben (im Masada-Restaurant und später in Jerusalem), dann ist das auch ornithologisch ein ganz erfreulicher Ertrag.
Nach einem relativ kurzen Aufenthalt fahren wir zu unserer neuen Übernachtungsgelegenheit im »Paradise Hotel« Bethlehem. In der Abenddämmerung geht es vorbei an Jerusalem – ein erster Blick auf die heilige Stadt. Es ist schon dunkel, als wir die hohe Sperrmauer erreichen, die Bethlehem vom Umland abschneidet, und die Grenzkontrollen passieren. Wir müssen einen Umweg fahren und das Paradise über den Hintereingang ansteuern, weil es in der Stadt Unruhen gibt: ein junger Palästinenser wurde in einem Flüchtlingslager erschossen, Jugendlich werfen Steine und die Armee geht mit Tränengas gegen sie vor. In der Lobby des Hotels springt mir sofort wieder das Porträt des Gründers und Patrons ins Auge, der in dieser Darstellung eine frappante Ähnlichkeit mit Hafiz al-Assad hat. Ein ereignisreicher Tag geht zu Ende und nach dem Abendessen falle ich todmüde ins Bett.